Verführerische Unschuld
zurück in den Militärdienst? An einer solchen Karriere ist nichts auszusetzen. Außer eine Verletzung hielte dich davon ab …“
„Marcus!“ Radwell unterbrach den Wortschwall seines Bruders. Er atmete tief ein, dann fuhr er fort: „Zuerst einmal ist dieses Collier kein Tand. Es ist Teil des Familienschmucks, und wenn es dir auch nicht bedeutend erscheint, da du ja sowieso alles erbtest, so war mir doch wichtig, es zurückgeben zu können. Übrigens will ich nicht zum Militär. Nicht, dass ich verwundet wäre, sorge dich deswegen nicht. Es ist nur …“ Von den trübsinnigen Umständen, mit denen er sich in letzter Zeit herumschlug, musste er seinem Bruder nicht unbedingt ausführlich erzählen. Er war erwachsen und brauchte seine Entscheidungen nicht zu rechtfertigen. „Lass mich einfach sagen, dass es an der Zeit war, den Dienst zu quittieren – in Ehren. Und wie du richtig sagtest, bin ich dreiunddreißig. Ich bin nicht mehr der unreife Bursche von vor fünf Jahren. Ich stehe auf eigenen Füßen, bin keiner deiner Pächter oder Dienstboten, denen du Anweisungen erteilen kannst. Es tut mir leid, wenn ich dir nicht respektvoll genug gegenübertrete, aber verlass dich darauf, dass ich weiß, was ich will, und vielleicht Pläne habe, die noch nicht spruchreif sind. Ich erkenne an, dass du dich um meine Zukunft sorgst, aber auf keinen Fall wirst du sie für mich planen, besonders nicht, falls Esme Canville deiner Ansicht nach eine Rolle darin spielen sollte. Und nun entschuldige mich, ich habe nichts mehr zu sagen. Wenn du mich nun wegen meiner Respektlosigkeit hinauswerfen willst, sei es so! Doch ich bitte dich, misch dich nicht weiter in mein Leben ein, so wie ich versprochen habe, mich aus deinem herauszuhalten. Einen guten Tag, Euer Gnaden.“
Sein Bruder blieb mit offenem Mund und sprachlos an seinem Schreibtisch zurück, ein Anblick, den Captain St John Radwell noch nie zuvor genossen hatte.
10. KAPITEL
Radwell saß in seinem Zimmer und starrte ins Feuer, bemüht, seinen rastlos arbeitenden Geist zu dämpfen, der darüber grübelte, was ihn stärker beunruhigte, seine momentane Lage oder dieses Mädchen. Wieder daheim zu sein und den Anwandlungen seines Bruders ausweichen zu müssen, war schon anstrengend genug; nun kam auch noch Esmes seltsames Verhalten dazu. Es war kaum auszuhalten.
Gestern auf dem Ball hatte sie ihm tatsächlich zugestimmt! Seitdem war sie höflich und entgegenkommend, und trotz dem wurde er das Gefühl nicht los, dass sie nickte, ihr spezielles Lächeln aufsetzte und dann tat, was ihr passte. Mirandas Idee, dass er mit Esme tändeln und sie dann abweisen solle, hatte einfach genug geklungen, doch nachdem er sie auf beschämende Weise hatte abblitzen lassen, wäre zu vermuten gewesen, dass sie wie jede andere Frau verzweifelt aufgab, stattdessen hatte sie den Spieß umgedreht. Dass nun er der Verfolgte war, hatte er nicht erwartet. Und wie oft es ihr gelungen war, ihn zu erwischen! Dann lächelte sie ihr unschuldiges Lächeln und ließ ihn gehen.
Er sagte sich, dass er ihrer schon längst Herr geworden wäre, wenn er nur endlich einmal tief und fest schlafen könnte. Doch die schlaflosen Nächte verlangten ihren Tribut, und die kurzen Nickerchen tagsüber waren kein Ausgleich. Er brauchte endlich Ruhe.
Als er nach Haughleigh kam, hatte er sich geschworen, ohne Laudanum auszukommen, was ihm leichtfiel, solange die anderen noch in London weilten und seinen merkwürdigen Tagesablauf nicht mitbekamen. Nun aber stellte man Erwartungen an ihn. Dennoch brauchte er unbedingt Ruhe, sonst würde er weder mit Esme noch mit seiner Familie fertig werden. Wenn sie nicht bald einen Ehemann für Esme fanden, würden sich Marcus und Miranda mit vereinten Kräften auf ihn stürzen. Eines Tages würde er erwachen und feststellen, dass er gerade vor dem Altar sein Jawort gegeben hatte. Himmel, dann wäre er für sie ein Leben lang verantwortlich und nicht nur ein paar Wochen.
Sicher konnte es nicht schaden, ein paar Tropfen des Mittels in seinen Brandy zu mischen. Wenn er endlich eine Nacht durchschlief, könnte er am nächsten Morgen auch wieder klar denken. Er schenkte sich ein und suchte in seiner Tasche nach dem Fläschchen. Toby missbilligte die Angewohnheit und hatte den ersten Vorrat versteckt, aber die Taschen des Schlafrocks zu durchsuchen, war ihm nicht eingefallen.
Sorgsam zählte Radwell ein paar Tropfen in sein Glas und schwenkte den Inhalt ein paarmal um. Als er das Glas an die
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