Verführerische Unschuld
ihrem Vater.“
„Du solltest ihrem Verstand trauen.“
„Wenn sie welchen hätte. Hübsch mag sie sein, aber sie sollte besser nicht ohne Hüter ausgehen, Marcus.“
„Nun, dich mag sie, scheint’s, sehr gern.“
„Das ist doch wohl Beweis genug für meine Ansicht.“
„Wenn du es so siehst. Aber hier inmitten meiner Gäste wird ihr nichts passieren. Wenn du sie lieber mit einem anderen Tanzpartner siehst, musst du das mit ihr ausmachen.“ Mit den Worten entfernte Marcus sich unbeeindruckt.
Radwell blieb und beobachtete das Paar weiter. Marcus musste blind sein! Der Bursche war ein Blender, die Sorte, die einem naiven gesellschaftlich unerfahrenen Mädchen wie Esme den Kopf verdrehte. Sicher, sein Abendfrack war hervorragend geschnitten, aber wahrscheinlich steckte die Schneiderrechnung noch in der Tasche, zusammen mit ein paar Schuldscheinen und dem Liebesbrief einer Mätresse.
Den Typ Mann kannte er gut genug; er hatte ihn jahrelang jeden Morgen im Spiegel gesehen.
Esme aber stand lächelnd da und schaute dem Burschen in die Augen. Nun trat sie sogar noch dichter an ihn heran, und Smythe beugte sich zu ihr hinab, flüsterte ihr etwas zu und streifte dabei zärtlich ihr Haar, dann ergriff er gefühlvoll ihre Hand und hob sie an seine Lippen.
Radwell nahm die Szene wie durch einen roten Nebel wahr. Endlich wandte Esme sich ab und kehrte in den Saal zurück. Als er sie wütend anschaute, bemerkte sie seinen Blick. Stolz hob sie den Kopf und lächelte noch strahlender, in ihren Augen blitzte der Schalk. Bald schon war sie im Gewühl der Gäste verschwunden.
Smythe allerdings blieb draußen im Garten und entfernte sich sogar zielstrebig noch weiter vom Haus. Unauffällig folgte Radwell ihm, bis kein anderer Gast mehr zu sehen war; dann holte er ihn rasch ein und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Smythe, nicht wahr?“
Geschmeidig wandte der Mann sich um und schenkte ihm einen kühlen Blick. „Ich wüsste nicht, dass wir einander vorgestellt wurden, Sir.“
„Lassen wir die Formalitäten. Sie können mir jetzt aushändigen, was Sie gerade der jungen Dame entwendet haben; ich werde es ihr wieder zurückgeben.“
„Ich habe keine Ahnung …“
„Wirklich nicht?“ Radwell lächelte ironisch. „Schauen Sie doch einmal in Ihrer linken Tasche nach. Sicherlich finden Sie einen diamantenen Ohrring darin.“
„Oh, der.“ Der Mann winkte verächtlich ab. „Den fand ich auf dem Boden. Ich wollte ihn gerade unserem Gastgeber übergeben.“
„Und dazu entfernten Sie sich so auffällig vom Haus? Nein, Sie lösten ihn vom Ohr der Dame, während Sie sie in ein vertrauliches Gespräch verwickelten. Sie wollen mir wohl doch nicht weismachen, dass Sie hier im Garten nach meinem Bruder, dem Duke, Ausschau halten? Ich nehme viel eher an, Sir, dass Sie sich unauffällig davonmachen wollten. Vermutlich nahmen Sie nur einen der Ohrringe, weil ein einzelner fehlender zufällig abhandengekommen sein kann, wohingegen es sehr verdächtig ist, wenn beide fort sind.“
Smythe zuckte die Achseln. „Ich benötige nur einen. Sehen Sie, ich bin gerade nicht sehr flüssig.“ Er zog das Schmuckstück aus seiner Tasche und warf es ihm zu. „Der Duke ist Ihr Bruder? Dann sind Sie wohl Radwell. Ich dachte, das Haus sei Ihnen wegen Ihres schlechten Charakters verboten.“
Radwell lächelte höhnisch. „Wie Ihre eigene Anwesenheit beweist, ist mein Bruder nicht besonders eigen bei der Wahl seiner Gäste. Als er mich damals aussperrte, pflegte er allerdings noch keine gewöhnlichen Diebe zu seinen Gesellschaften zu laden.“
Lässig lehnte Smythe sich gegen einen Baum. „Sie sind ungerecht. Ich bin kein gewöhnlicher Dieb, ich wurde noch nie ertappt – bis heute. Aber wie sagt das Sprichwort? Nur ein Dieb kann einen Dieb fangen.“
„Man hat mich schon alles Mögliche genannt, Trunkenbold, Spieler, Schurke, Dieb jedoch noch nicht.“
„Vielleicht nicht ins Gesicht. Aber fragen Sie mal diverse Ehemänner, deren Gattinnen sich Ihrer Gesellschaft erfreuten …“
Radwell zuckte mit den Schultern. „ Touché. Der Punkt geht an Sie. Wenn Sie mich allerdings reizen wollen, damit ich Sie zum Duell fordere, wird Ihnen das nicht gelingen.“
Der Mann lachte. „Ich und ein Duell? Seltsamer Gedanke. Ich hätte eher angenommen, Sie wollten mich fordern.“
„Nun, wie soll ich sagen?“ Radwell seufzte. „Ein Duell bringt nur Ärger. Und dann all das Blut! Sie wären in kürzester Zeit tot, und ich müsste lange
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