Verführerische Unschuld
Lippen hob, dachte er unvermittelt daran, wie rasch das Mittel bei Esme gewirkt und wie bleich sie dann in ihrer Bewusstlosigkeit auf seinem Sofa gelegen hatte. Er hatte es verschuldet, wenn auch unabsichtlich. Doch sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, außer, als sie letztens über seinen Mangel an Selbstbeherrschung spottete. Und zu Recht, er besaß keine Selbstbeherrschung, aber wenn schon! Er brauchte Schlaf, und um zu schlafen, brauchte er die Droge. Wieder hob er das Glas, doch vor seinen Augen erstand Esmes Bild, er sah ihre blitzenden Augen und ihre verächtlich verzogenen Lippen. Sie hatte durchschaut, dass seine Tapferkeit nur vorgetäuscht war.
Sie war tausendmal tapferer als er, denn als sie zu ihm gekommen war, hatte sie ihren guten Ruf, ja ihr ganzes Leben aufs Spiel gesetzt, nur um ihrem Vater und einer verhassten Heirat zu entkommen. Wer ihren rebellischen Geist erkannt hatte, musste stolz sein, sie zu erringen. Er hob das Glas, wie um ihr zuzutoasten, ließ es jedoch wieder sinken, da er abermals ihre verächtliche Miene vor sich sah.
Er verdiente ihre Zuneigung nicht. Ihn verlangte nicht einmal danach, ihrer wert zu sein, und doch brachte er es nicht über sich zu trinken, da er ihre Reaktion kannte, wenn sie herausfand, dass die Droge ihn nicht stützte, sondern ihn beherrschte.
Seufzend erhob er das Glas erneut. „Auf abwesende Freunde!“ Mit diesen Worten schleuderte er den Inhalt ins Kaminfeuer, wo er in einer Stichflamme aufloderte und zischend verglühte.
Dann legte er den Schlafrock ab und schlüpfte ins Bett. Zur Hölle mit den Dämonen der Vergangenheit, heute Nacht würde er schlafen! Er schloss die Augen, konnte jedoch die Furcht nicht ganz abschütteln – ebenso wenig wie den Gedanken an Esme. Die liebe, reizende Esme. Im Geiste sah er sie vor sich, sie lächelte ihm zu, beifällig, aber auch schelmisch. Er konnte sich ihr Gesicht kaum ohne diesen Hauch von Schelmerei vorstellen, der zu sagen schien, sie wisse mehr, als sie preisgab. Eigentlich war es eine Schande, dass sie eine tugendhafte junge Dame war und nicht die Demimonde, zu der er sie hatte machen sollen. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie des Nachts neben ihm lag, mit zerzaustem Blondhaar und von Erregung geröteten Wangen.
Die Esme, die er vor sich sah, ergab sich ihm leidenschaftlich und war nur zu bereit, ihm den Gedanken an Laudanum auszutreiben. Wenn er nach dem Fläschchen griffe, würde sie ihre zarten Arme um ihn schlingen und ihn küssen, bis er alles darüber vergaß.
Rasch rief er sich zur Ordnung. Nichts dergleichen würde sie tun. Eine wohlerzogene junge Dame wie sie wäre entsetzt, sich als Gegenstand seiner nächtlichen Fantasien zu finden.
Aber was schadete es, an sie zu denken, solange er diesen niedrigen Begierden nicht nachgab? Sie würde nichts davon erfahren, sofern er nur seine Hände bei sich behielt. Auf jeden Fall brauchte er etwas, das ihm unbeschwerten Schlaf verschaffte, und wenn es nicht das Laudanum war, so sollte es für ein paar kurze köstliche Augenblicke die Esme seiner Träume sein.
Wie durch eine dicke Schicht Watte drangen Stimmen an sein Ohr. Zuerst Esmes erschreckter Ausruf: „Radwell!“, dann der unterdrückte Fluch eines Mannes. Ein heftiger Schlag traf ihn am Kopf, ließ ihn schwanken und zu Boden fallen.
Halb bewusstlos registrierte er, wie mehrere Kerzen angezündet wurden und eine Szene erhellten, die nicht in seinem eigenen Schlafzimmer stattfand. Jetzt erst spürte er, dass kühle Luft über seine nackte Haut strich.
„Verdammt, ich sagte, steh auf!“ Das war Marcus’ Stimme. Gleichzeitig merkte Radwell, dass ein Bettlaken vor seinen Füßen landete. Schwankend kam er auf die Beine, und schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen.
„Bedecke dich endlich!“
Er war unbekleidet! Rasch nahm er das Laken auf und schlang es sich um die Hüften. Als er verwirrt umherschaute, entdeckte er Esme, die, ihre Decke bis zum Kinn hochgezogen, mit bestürzter Miene auf ihrem Bett hockte.
In sein immer noch eingeschränktes Blickfeld trat plötzlich Marcus und verabreichte ihm eine schallende Ohrfeige, die den Nebel endgültig aus seinem Hirn vertrieb. „Lass mich erklären …“, stammelte Radwell, brach jedoch ab, als er merkte, dass er nicht einmal selbst wusste, wieso er hier in diesem Raum war.
„Du hast meine Gastlichkeit zum letzten Mal missbraucht!“
Sein Bruder klang eisig, mit einem tödlichen Unterton. „Wir treffen uns im Morgengrauen, wenn du
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