Verfuehrt
sich daran, vor allem, wenn man damit aufwächst, deshalb erwarte ich eigentlich gar nicht mehr von meiner Mutter, dass sie Anteil an meinem Leben nimmt, bin eher darauf eingestellt, immer danach zu schauen, dass sie mit ihrem zurechtkommt – so als wäre sie das Kind und nicht ich.
Dass die Veränderung von Dauer ist, mag ich noch nicht glauben – dafür war Mums Verhalten während der letzten Jahre einfach zu sprunghaft. Aber heute war ihre Ausgeglichenheit wirklich ein Segen, denn eigentlich reicht mir schon das Wechselbad der Gefühle, in dem ich selbst gerade stecke.
»Und wie war’s bei deiner Mutter?«, erkundige ich mich bei Matteo, der mir immer noch beunruhigend nah ist, und stelle das Buch wieder zurück an seinen Platz. »Hat sie sich gefreut, dich zu sehen?«
Matteo lächelt. »Das hätte sie sicher, wenn sie da wäre. Aber sie musste ihren Kanada-Aufenthalt kurzfristig verlängern – hat irgendetwas mit der Firma ihres Mannes zu tun. Es dauert wohl noch, bis die beiden zurückkommen können, deshalb weiß ich gar nicht, ob wir uns diesmal überhaupt sehen werden. Hängt ganz davon ab, wie lange ich für die Expertise brauche.«
Diesmal?, denke ich und spüre, wie mein Herz schneller schlägt. »Bist du oft bei ihr?«
Matteo zuckt mit den Schultern. »Eher selten«, sagt er und lässt meine kurzfristige Hoffnung, dass er London häufiger besucht, wieder schwinden. »Aber sie kommt nach Rom, wenn sie kann.«
Ehrlich erstaunt sehe ich ihn an. »Sie kommt nach Rom? Ich wusste gar nicht, dass ihr euch so nahesteht. Ich dachte, du …«
Zu spät fällt mir ein, dass es vielleicht keine gute Idee ist, gerade jetzt das anzusprechen, was sicher ein Trauma für ihn gewesen sein muss.
Doch er lächelt nur über mein erschrockenes Gesicht. »Was dachtest du? Dass ich nicht mehr mit meiner Mutter rede, weil sie die Familie damals verlassen hat und zurück nach England gegangen ist?«
Ich spüre, wie mein Herz sich zusammenzieht. »Na ja, vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber du musst doch wütend auf sie gewesen sein.«
Er löst sich von dem Regal, doch der Ausdruck in seinen Augen bleibt gelassen. »Oh, das war ich auch. Vor allem nach dem Tod meines Vaters. Damals stand meine Mutter kurz davor, Norman – ihren jetzigen Mann – zu heiraten. Sie hat mir angeboten, dass ich zu ihr hierher nach London ziehen kann, aber das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte überhaupt nichts mit ihr zu tun haben.« Ein reumütiges Lächeln spielt um seine Lippen. »Als Kind sieht man vieles nur aus der eigenen Perspektive. Aber sie war sehr geduldig mit mir, und irgendwann haben wir uns ausgesprochen. Inzwischen verstehe ich, warum sie damals gehen musste – und auch nicht zurückkommen konnte.« Er zuckt mit den Schultern. »Was nicht heißt, dass es zu der Zeit, als es passierte, eine besonders schöne Erfahrung war.«
Für einen kurzen Moment sehe ich etwas in seinen Augen aufblitzen – etwas, das ich nur zu gut kenne und das mich schon, als ich es zum ersten Mal sah, zu ihm hingezogen hat. Dieses Dunkle, Traurige hinter seinem Lächeln, das mich auch jetzt mitten ins Herz trifft. Deshalb wende ich abrupt den Kopf ab, weil ich schon wieder drohe, mich in seinem Blick zu verlieren.
Denn nicht alles, was ihm in seinem Leben widerfahren ist, hat er schon so gut verkraftet und für sich geklärt. Es gibt Dinge, über die er nicht sprechen will und an die man nicht rühren darf – der Tod seiner Frau zum Beispiel und der Unfall, der ihm diese Narbe eingetragen hat. Damit ist er offenbar noch nicht fertig, und so lange das so ist, haben weder ich noch irgendeine andere Frau eine Chance, wirklich an ihn heranzukommen.
Und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er mich wieder verlassen wird, erinnere ich mich. Sobald die Expertise erledigt ist, verschwindet er aus meinen Leben. Und das wird dann auch keine besonders schöne Erfahrung …
»Mr Bertani!«, ertönt plötzlich ein tiefer Bass hinter uns, und Lord Ashbury betritt die Bibliothek.
Er ist Ende fünfzig, so alt wie mein Vater, und hat braune, schon ziemlich ergraute Haare. Seine konservative Kleidung – brauner Anzug mit braun-weiß gestreiftem Hemd und beigefarbener Krawatte – passt perfekt zu den dunklen Holzmöbeln der Bibliothek.
Lächelnd kommt er auf Matteo zu, um ihn zu begrüßen, erinnert sich jedoch im letzten Moment an seine Manieren und gibt zuerst mir die Hand.
»Schön, dass Sie Mr Bertani herbringen konnten, Miss
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