Verführt: Roman (German Edition)
Kajüte gesperrt zu verbringen, die von Stunde zu Stunde zu schrumpfen schien. Sie langweilte sich unsäglich und schlief auch weiterhin zusammengerollt inmitten des riesigen Betts.
Der rastlose Blick auf den Horizont zeigte ihr weder Land noch irgendeine andere Orientierungshilfe. Oder Rettungschance. Bislang hatte sich noch keine Fluchtmöglichkeit ergeben. Jedes Mal, wenn Apollo sie wieder verließ, war das verfluchte Geklirre zu hören und der Schlag. Sie verlor langsam die Geduld, aber sie fand schnell heraus, dass es auch nichts brachte, wenn sie Apollo schlecht behandelte. Mürrische Worte perlten an seiner gut geölten Haut ab wie Wasser. Er und Smythe hätten Brüder sein können, dachte sie in einem Anfall von Groll.
Am dritten Tag fing sie vor lauter Langweile damit an, das Chaos, das sie angerichtet hatte, wieder in Ordnung zu bringen. Sie fischte ein Buch vom Boden und wollte aus purer Neugier plötzlich wissen, welche Art von Buch einen Mann wie Gerard Claremont zu fesseln vermochte.
Sie betrachtete hingerissen den schönen Einband und fuhr mit den Fingerspitzen über den ins marokkanische Leder geprägten Titel. Captain Singleton von Daniel Defoe. Es bedurfte nur eines kurzen Blicks, und sie wusste, dass es sich bei dem Buch um einen Roman handelte, der vorgab, die Autobiografie des berüchtigten Piraten zu sein.
Sie schürzte belustigt die Lippen. Der Admiral hatte seine ganz besondere Freude daran gehabt, sich über Romane lustig zu machen, weil etwas, das in Wirklichkeit nie geschehen war, schlicht von absolut keiner Bedeutung sein konnte. Doch je mehr sie zurückdachte, desto mehr verging ihr die Häme. Der Admiral hatte auch vieles andere heruntergemacht – seine Tochter eingeschlossen – und seine ganz besondere Freude daran gehabt. Trotzig setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden und fing zu lesen an.
Vier Stunden später, als Apollo das Mittagessen brachte, saß sie immer noch so da. Sie kaute geistesabwesend auf trockenen Keksen und Pökelfleisch herum und blätterte mit der anderen Hand die Seiten um. Ohne es zu wollen, hatte sie zwischen den Seiten des Buchs genau das gefunden, was sie gesucht hatte – eine Fluchtmöglichkeit. Die Stunden flogen nur so dahin, während Lucy den Kapitän zu nervenaufreibenden Abenteuern an exotische Orte begleitete.
Am nächsten Morgen hatte sie das Buch beendet und blätterte mit wehmütigem, aber zufriedenem Seufzen die letzte Seite um. Sie stellte das Buch sachte auf seinen rechtmäßigen Platz im Bücherregal zurück und ging die Reihe mit gebundenen Atlanten und Seekarten durch, bis sie auf zwei weitere Romane Daniel Defoes stieß.
Sie verschlang den zweiten und war schon mitten im dritten Band, als Apollo mit dem Abendessen erschien. Sie legte das Buch zur Seite und achtete peinlich darauf, nicht die fragilen Seiten zu zerknittern. Dass Defoes Helden die verwirrende Tendenz besaßen, in ihrer Vorstellung das Aussehen Gerard Claremonts anzunehmen, war ihr schnell aufgefallen. Doch Gerards neueste Reinkarnation in Gestalt eines noblen Schiffbrüchigen namens Robinson Crusoe mit Apollo in der Rolle des loyalen Freitag war auf leeren Magen kaum zu ertragen.
Sie sah Apollo mit frisch erweckter Neugier beim Tischdecken zu. Die wildromantischen Erzählungen Defoes hatten ihr Interesse an Menschen geweckt und daran, was sie trieb, den einen oder anderen Weg zu beschreiten. Apollos Füße waren wie üblich nackt, und Lucys Blick wanderte zu den hässlichen Narben um seine Knöchel.
Er schickte sich an zu gehen. Lucy sprang auf. »Halt!« Sie realisierte, wie herrisch ihr Befehl geklungen haben musste, und setzte mit unsicherem Lächeln hinzu: »Bitte bleiben Sie doch, ja? Lassen Sie uns zusammen essen. Ich bin so … einsam.« Erst, als das Wort laut ausgesprochen war, wurde ihr klar, wie sehr es zutraf.
Apollo zögerte und überraschte sie schließlich mit einer formvollendeten Verbeugung. »Ich fühle mich geehrt, die großzügige Einladung anzunehmen, Missie.«
Er faltete sich in den Stuhl, während Lucy akribisch das Essen in zwei Hälften teilte. Sie konnte nur vermuten, wie schockiert ihr Vater gewesen wäre, sie mit einem Mann das Brot brechen zu sehen, der ihm wie ein Wilder erscheinen musste. Von dem Gedanken begeistert, begann sie zu lächeln.
Das spitzbübische Grinsen seiner Gastgeberin verblüffte Apollo. Zum ersten Mal, seit sie die Truhe des Kapitäns zurückgewiesen hatte, war sie wieder echt vergnügt. Er hatte an jenem Tag,
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