Verführt: Roman (German Edition)
Sie verstand Apollos Dilemma völlig. »Hat aber nichts genutzt, oder?«
»Nein. Er hat einfach weitergemacht, hat mich veräppelt, mich provoziert. Bis ich schließlich selbst zu reden angefangen habe, um den infernalischen Klang seiner Stimme nicht mehr ertragen zu müssen. Sein Wissensdurst war fast noch größer als meiner. Er hatte keine richtige Schule besucht. Atlanten lesen oder Frachtlisten, das konnte er. Und gut genug schreiben, um ordentlich das Logbuch zu führen. Aber sonst? Nichts. Er hatte eine solche Begabung für Sprachen, dass er nach ein paar Monaten schon auf Französisch daherschwatzte und zusätzlich im Dialekt meines Stammes.«
Schwermut verdunkelte seinen Blick. »Er hat sich so bemüht, trotz der Umstände immer weiter zu reden, immer weiter zu lachen. Es hat lange gedauert, bis sie ihn zum Verstummen gebracht haben.«
Lucy hasste sich für ihr Mitgefühl. »Ich nehme an, er hat irgendeine wundersame Flucht geplant. Irgendetwas Wagemutiges, Einfallsreiches. Ein Erdbeben, die Trompeten von Jericho oder sonst einen Unsinn.«
Apollo schüttelte den Kopf. »Unsere Flucht hat nichts zu tun mit göttlicher Intervention.« Sein rätselhaftes Lächeln sagte ihr, dass es keinen Sinn hatte, ihm die Einzelheiten zu entlocken.
Lucy betrachtete ihn neugierig. Sie verstand durchaus, dass die Gefangenschaft zwei Männer mit völlig unterschiedlichem Hintergrund zusammenschweißen konnte. Aber das erklärte noch nicht, warum dieser imposante Riese mit seinem Hang zum Pazifismus und seiner Begeisterung für französische Philosophen an Bord eines Piratenschiffs Dienst tat.
»Auf dieser Welt gibt es wohl kaum irgendwo einen Platz für einen Mann Ihrer …«, empört von der eigenen Taktlosigkeit, geriet Lucy ins Stocken, »… Bildung. Ich nehme an, Sie hatten keine andere Wahl, als sich mit Mr. Claremont zusammenzutun.«
Apollo zog die Augenbrauen hoch, als gäbe Lucy ihm Rätsel auf. »Er ist mein Captain. Ich würde ihm überallhin folgen.«
Lucy senkte den Blick. Seine beredte Klarheit beschämte sie, seine bedingungslose Loyalität bereitete ihr Sorgen. Sie hätte gerne gewusst, was die Ursache dieser Ergebenheit war, doch sie musste zu ihrem Ärger feststellen, dass sie kein einziges Wort mehr herausbrachte.
Während der folgenden Tage sollte Lucy das vertrauliche Gespräch mit Apollo bitter bereuen.
Mr. Defoes Romane waren zu Ende gelesen. Ihr Kopf schwirrte, und die Bilder Gerards verfolgten sie. Gerard, wie ein Tier an die Wand gekettet, das sonnige Lächeln bitterer Resignation gewichen, die strahlenden Augen von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung getrübt. Sein augenfälliges Fernbleiben intensivierte seine ständige Präsenz nur noch. In ihren Gedanken, im Herzen, im Schlaf.
Eines Nachts kam er im Traum zu ihr, das Gesicht dunkel und finster im Schatten und schwer zu erkennen, dann wieder hell erleuchtet und mit jenem herzzerreißenden Grinsen. Sie erwachte mit tränennassen Wangen, die Arme um den Oberkörper geschlungen, die Karikatur einer Umarmung, die ihrer sehnsuchtsvollen Einsamkeit nicht abhelfen konnte.
Sie verbrachte den Rest der Nacht damit, sich mit wachsender Verzweiflung auf der zerwühlten Tagesdecke hin- und herzuwerfen. Sie musste fliehen, solange sie ihre Gefühle noch unter dicken Schichten aus Zorn und verletztem Stolz verbergen konnte.
Am nächsten Morgen erwachte sie aus unruhigem Schlaf und fand die Kajüte von milchigem Sonnenlicht erhellt und entdeckte durchs Bullauge eine schmale Landzunge am Horizont.
Als Apollo mit dem Frühstück hereinkam, stand sie am Kleiderschrank und lächelte unschuldig, während sie die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt. »Guten Morgen, Apollo.«
»Guten Morgen, Missie.«
Er wandte ihr den glänzenden Rücken zu, schob den wuchtigen Atlas zur Seite und rückte das Tablett zurecht. Lucy schlich auf Zehenspitzen auf ihn zu und holte langsam mit der Flasche aus, die sie am Hals mit zittrigen Fingern umklammert hielt. Ihr Herz hämmerte vor Nervosität und Gewissensbissen.
»Ich an Ihrer Stelle, Missie, würde das lieber nicht tun. Das ist der Lieblingsbrandy unseres Captains«, sagte Apollo freundlich, und ohne sich umzudrehen.
Lucy ließ verdutzt die Flasche sinken und war sonderbar erleichtert, dass ihr erspart blieb, sie auf dem Kopf des Steuermanns zu zerschlagen.
Lucys zweiter Fluchtversuch verlief noch unglücklicher. Weil ihr einfach nichts Besseres einfiel, wartete sie an der Tür ab, bis Apollo hereinkam,
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