Verführt: Roman (German Edition)
wie befohlen, die vernichtende Nachricht überbracht, worauf Gerard so sehr gelacht hatte, dass er sich die Tränen aus den Augen wischen musste.
»Woher kommen Sie, Apollo?«, fragte Lucy.
Die unbedarfte Frage erwischte ihn kalt. Sie hatte bis dato keinerlei Interesse an irgendetwas gezeigt und sich dauernd nur mürrisch beklagt. Vielleicht fehlte ihr einfach der tröstliche Klang einer menschlichen Stimme. Apollo wusste genau, wie schrecklich die nicht enden wollende Stille sein konnte.
»Ich entstamme einem Zulu-Klan«, erwiderte er, während er einen trockenen Keks entzweibrach und in die dünne Suppe aus Wasser und Mehl tunkte, die als Bratensoße herhalten musste. »In meinem neunzehnten Sommer haben sie mich von Zuhause weggeholt und nach Santo Domingo geschafft, wo mich ein französischer Plantagenbesitzer gekauft hat.«
Apollos Stimme war melodisch und wohlgesetzt, die Stimme des geborenen Geschichtenerzählers. Die präzise Artikulation wies ihn als einen Mann aus, der die englische Sprache umso mehr liebte, weil er sie erst so spät gelernt hatte. Lucy dachte nicht mehr ans Essen, stützte das Kinn in die Hände und hörte zu.
»Mein Herr war ein guter Mann, ein Mann der Aufklärung. Anstatt mich auf die Felder zu schicken, hat er mich etwas lernen lassen. Lesen und Schreiben auf Französisch, Latein und Englisch. Er hat mir die Manieren eines Gentlemans beigebracht und viele Stunden lang mit mir über Kunst und Philosophie debattiert.« Apollo lächelte. »Rousseau und Jesus Christus waren seine Themen. ›Der Mensch ist frei geboren und wird doch überall in Ketten gelegt‹.«
Lucy lief ein Schauer den Rücken hinab, als sie Apollo die Worte zitieren hörte, die der Französischen Revolution den Boden bereitet hatten.
»Aber wenn dieser Christus, den er mir so ans Herz gelegt hat, gestorben ist, um die Menschen zu befreien, weshalb war ich dann nicht frei? Am Ende habe ich ihn dazu gebracht, meiner Argumentation zuzustimmen.« Apollos Gesicht verdunkelte sich. »Aber die Erkenntnis kam zu spät. Noch bevor er beim Gouverneur um meine Freiheit eingeben konnte, brach ein Sklavenaufstand aus. Ein Feldarbeiter unseres Nachbarn hat ihn getötet. Er ist in meinen Armen gestorben.«
Lucy fand sich auf der äußersten Stuhlkante wieder. »Was für eine Wahl hatten Sie da noch, als sich dem Aufstand anzuschließen?«
Apollo schüttelte den Kopf. »Wenn ich eines von meinem Herrn gelernt habe, dann, dass Gewalt nur Gewalt gebiert.«
Seltsame Philosophie für einen Piraten, dachte Lucy, behielt ihre Meinung aber für sich.
»Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Ich wurde gefangen genommen und eingesperrt. Die örtlichen Machthaber fürchteten mich – wegen meiner Körpergröße und meiner Bildung. Die Sklaven wiederum verehrten mich deshalb. Der Gouverneur hätte mich am liebsten zusammen mit den anderen Gefangenen hängen lassen, aber er hatte Angst, einen Märtyrer aus mir zu machen und einen neuen Aufstand heraufzubeschwören, blutiger als den ersten. Also haben sie mich weggesperrt und gehofft, dass die Welt mich vergessen würde.«
»Und, hat sie das?«, fragte Lucy leise.
Er nickte ohne jede Spur von Selbstmitleid in den dunklen Augen. »So lange, bis er gekommen ist.«
Lucy musste nicht erst fragen, wer er gewesen war. Ihr pochendes Herz sagte es ihr. Sie wollte nichts mehr hören. Nicht riskieren, dass die Verachtung für ihren Entführer einen empfindlichen Riss bekam. Aber es war zu spät.
Ein bittersüßes Lächeln spielte um Apollos Lippen. »Sein Lachen war das erste Lachen, das ich in fünf Jahren gehört hatte. Es war wie Musik, Balsam für die Seele.«
Lucy schob den Teller fort und erinnerte sich, wie sie jenes unwiderstehliche Lachen, das sie bis heute in ihre Träume verfolgte, zum ersten Mal gehört hatte. »Sie haben ihn also auf der Stelle gemocht, oder?«, fragte sie betreten.
Apollo schüttete sich vor Lachen aus. »Gehasst habe ich ihn, diesen Hundesohn!«
Lucy lehnte sich schockiert nach vorn. »Was haben Sie?«
»Fünf Jahre lang hat die Verbitterung an mir genagt. Und er war ein Weißer, genau wie die Männer, die mich eingesperrt hatten. Und nicht nur, dass er ein weißer Mann war, sondern auch noch einer, der unablässig gequasselt hat. Ich hab ihm gesagt, entweder er hält den Mund und lässt mich in Ruhe, oder ich stranguliere ihn im Schlaf mit meinen Ketten.«
Lucy schüttelte den Kopf und erinnerte sich, wie oft sie versucht gewesen war, das Gleiche zu tun.
Weitere Kostenlose Bücher