Verführt: Roman (German Edition)
ruchloser Fremder, der sich als der Mann maskiert hatte, den sie hätte lieben können.
»Lucy?«
Der sanfte Tonfall erstaunte sie. Als hörte sie den Geist eines verstorbenen Geliebten sprechen. Noch erstaunlicher war es, Gerard mit besorgter Miene vor ihr knien zu sehen, als sich die Nebelschwaden vor ihren Augen wieder verzogen.
»Ist Ihnen wieder unwohl? Wahrscheinlich noch die Nachwirkungen des Somnorifera .«
Er wollte ihr die Hand auf die Stirn legen, doch sie zuckte zurück. »Danke, es geht mir gut. Im Gegensatz zu Ihnen leide ich weder unter sonderbaren Blindheitsanfällen noch unter Seekrankheit.«
Er richtete sich auf und nahm die Abfuhr nicht ganz so taktvoll hin wie zuvor. Wie hätte sie ihm auch sagen sollen, dass sie an einer weit schwereren Erkrankung litt – einem gebrochenen Herzen?
»Was haben Sie mit mir vor, Captain? Mich an weiße Sklavenhändler verkaufen, mich an den Meistbietenden verhökern, Lösegeld erpressen?«
»Der Admiral kann meinetwegen ersticken an seinem erschlichenen Reichtum. Ich will einzig und allein den Kaperbrief und ein umfassendes Geständnis, was seine Rolle in der Verschwörung gegen mich betrifft.«
Der zynische Unterton in Lucys Lachen machte seine Verzweiflung auch nicht erträglicher. »Sie werden keines von beidem bekommen. Sein guter Ruf wäre zerstört. Er wäre ruiniert.«
»Dann wird er sich wohl entscheiden müssen, oder?« Die unausgesprochene Drohung ängstigte sie. »Ruhen Sie sich aus«, kommandierte er barsch. »Sie müssen nicht schon bei Tagesanbruch aufstehen. Sie werden sehen, ich beanspruche Ihre Zeit weit weniger, als Ihr Vater es getan hat.«
Lucy musste verblüfft mitansehen, wie er den Unterrock aus dem Weg schob und sich anschickte zu gehen. Sie machte den Mund auf, um nach ihm zu rufen, und klappte ihn unverrichteter Dinge wieder zu. Was hätte sie auch tun sollen? Ihn zurückhalten, damit er sie entehrte?
Die Tür fiel ins Schloss.
Der Bolzen krachte an seinen Platz.
»Verfluchter Schuft!«, Sie sprang aus dem Stuhl und gab dem ledergebundenen Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden lag, einen wütenden Tritt.
Lucy wusste, wie absurd sie sich aufführte. Sie hatte befürchtet, er werde sie vergewaltigen, und nun war sie in ihrem Stolz verletzt, weil er es nicht einmal versucht hatte.
Sie ging ans Bullauge und sah den dämmrigen Schatten zu, wie sie langsam den Himmel verdunkelten. Wartete Gerard einfach nur den richtigen Zeitpunkt ab, wie es ihm schon auf Iona so meisterhaft gelungen war, oder spielte er einmal mehr den Gentleman? Auf Iona hatte Lucy sich ihm förmlich auf den Schoß geworfen, und er hatte ihr widerstanden.
Sie schloss die Augen, als all die unerwünschten Erinnerungen auf sie einstürmten: Gerards Hände, die zärtlich ihre Brüste umfassten; die Finger, die das feuchte, pochende Zentrum ihrer Lust streichelten; die Hand, die ihren exstatischen Schrei erstickte. Die verbotenen Bilder stürzten sie in eine Mischung aus Sehnsucht und Scham.
Fand er sie abstoßend, weil sie die Tochter eines Mannes war, den er verabscheute, oder fand er sie um ihrer selbst willen widerwärtig? So ungern sie es sich auch eingestand, Letzteres wäre bei weitem schlimmer gewesen.
In einem hatte ihr Vater Recht gehabt: Gefühle waren der Feind allen logischen Denkens. Lucy war es leid, sich mit widersprüchlichen Emotionen abzuplagen. Sie sank rücklings gegen das Bullauge und betrachtete das riesige Bett, das ihr nun nicht mehr halb so bedrohlich erschien. Seufzend löschte sie die Laterne. Sie stieg in des Captains Bett, mühte sich nach Kräften, nicht die elegante Tagesdecke durcheinander zu bringen, und kapitulierte vor der eigenen Erschöpfung.
Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel auf Lucys Gesicht. Gerard stand über sie gebeugt und beobachtete sie beim Schlafen. Sich von ihr fern zu halten, war schon auf Iona schwer genug gewesen, aber sie hier an Bord der Retribution zu haben – unter seinem Kommando, in seinem Bett -, war eine Versuchung, der zu widerstehen man von keinem Mann erwarten konnte.
Sie hatte sich erschöpft zusammengerollt und es dabei irgendwie geschafft, die seidene Tagesdecke nicht zu zerknittern. Die Kohle im Ofen war heruntergebrannt, und es war kalt geworden in der Kajüte, doch Lucy hatte sich Decken und Kissen verweigert, als fürchte sie, sich sonst noch mehr dem Feind auszusetzen. Ihm.
Ihre defensive Haltung und das kleine bisschen Verruchtheit, die die Männerkleider ihr verliehen, ließen sie
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