Verführt: Roman (German Edition)
eigentlich schon einmal ein Damenkleid genäht?«
Gerard starrte blind auf die ledergebundenen Logbücher auf dem Kartentisch vor sich. Irgendetwas sprang oben auf der Decke seiner Tageskajüte herum; er richtete den Blick aufwärts. In Anbetracht seines irrationalen Verhaltens, seit Lucy an Bord war, plante die Mannschaft vermutlich eine Meuterei. Captain Lucy , dachte er müde. Er musste zugeben, es hatte etwas. Pudge hätte seine Talente nutzen können, um eine neue Flagge zu kreieren. Eine pastellfarbene zartrosa vielleicht. Eine zarte Frauenhand etwa, die ein Männerherz zerquetschte. Das Herz eines Narren.
Er kippte einen Schluck Brandy hinunter und wünschte sich, dass das von ihm selbst erlassene Verbot, offenes Feuer an Bord des Schiffs zu entzünden, nicht auch für Zigarren gegolten hätte. Der rauchige Geschmack des Alkohols verstärkte nur das hohle Gefühl in seiner Magengegend. Lucy hatte ihn doch tatsächlich dazu gebracht, sich vor seinen Leuten unmöglich zu machen. Und er konnte an nichts anderes denken als an dieses herrliche Gefühl, sie in den Armen zu halten.
Als er erneut nach der Brandyflasche griff, fiel ihm ein Buch voller Stockflecken ins Auge. Er zog es heran. Ein dutzendmal hatte er die letzten Tage Annemarie Snows Tagebuch zur Hand genommen und überlegt, ob er es lesen sollte. Doch jedes Mal hatte ihn irgendetwas davon abgehalten. Ein innerer Widerstand, die Schatten der Vergangenheit aufzuwühlen. Es gab in seinem Leben schon genügend Geister, die nach Gerechtigkeit schrien, er brauchte nicht noch einen.
Seine müden Finger streichelten den arg mitgenommenen Samt. Vielleicht sollte er es Lucy geben. Es würde sie vielleicht ablenken … von ihm … für wenigstens zehn Minuten.
Apollo erschien an der Tür und knickte seine riesenhafte Gestalt in eine formvollendete Verbeugung.
Gerard sah ihn fragend an. »Ich habe dich noch nie ein Hemd tragen sehen, es sei denn, es hat geschneit. Was ist los? Kommt Seine Majestät zu uns an Bord?«
Apollo schwieg ungerührt und überreichte Gerard ein Blatt Papier, das Apollos eigene unverwechselbare Handschrift trug.
Miss Snow bittet darum, Sie heute zum Abendessen mit Ihrer Anwesenheit zu beehren.
Gerard verbarg den Anflug von Rührung hinter dem schnodderigen Zynismus, den er fünf Jahre lang bis zur Perfektion kultiviert hatte.
»Ist sie jetzt auf eine effizientere Methode verfallen, mich loszuwerden? Mit Gift vielleicht?«
»Ich meine, auf der Speisekarte keinen Schierling entdeckt zu haben, Sir.«
Gerard zögerte und war versucht abzulehnen. Doch dann sagte er: »Was soll’s, ich habe für heute Abend noch keinerlei viel versprechende Verabredung. Meine Männer halten mich sowieso durchweg für wahnsinnig.«
Er trat mit Schritten, die länger waren als sein Geduldsfaden, auf den Gang hinaus, während Apollo sich diskret verdrückte.
Vor der Kapitänskajüte angekommen, hielt er kurz inne und widerstand dem Drang, sein Hemd glatt zu ziehen und sein Haar zurechtzustreichen. Er klopfte kurz an und trat ein, ohne die Antwort abzuwarten. Schließlich konnte man von einem Kapitän auch kaum erwarten, dass er um Einlass in sein eigenes Quartier ersuchte.
Er hatte erwartet, die Kajüte im Zustand unheiligen Durcheinanders vorzufinden und Lucy in ihren schlichten, maskulinen Sachen. Was er nicht erwartet hatte, war eine perfekte Ordnung, in der sogar seine heiß geliebten Defoe-Romane mit ihren Rücken aus marokkanischem Leder mit liebender Hand präzise in die Regale zurückgestellt worden waren. Bevor er den Schock noch verdaut hatte, löste sich ein Mädchen aus dem Dunkel.
Das heißt, eigentlich kein Mädchen, sondern eine Frau. Eine Frau, die er kaum wiedererkannte. Lucy hatte sich sowohl gegen Tams Hose als auch gegen das weiße Kleid im griechischen Stil entschieden und trug eine gloriose Kombination aus Bändern und Spitze. Über dem schimmernden türkisfarbenen Satin lag ein dünnes Gewebe cremeweißer Spitze, und das Kleid bauschte sich genau bis zu den Fußknöcheln und kein Stück weiter.
Das leicht antiquierte Kleid hätte in modischeren Kreisen wohl kaum Furore gemacht, aber zu Lucys Porzellanteint und dem silbrigen Blond der hochgesteckten Haare war es schlicht perfekt. Gerard fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Als sei er wieder vierundzwanzig Jahre alt und stünde einer jener exquisiten Londoner Schönheiten gegenüber, die sich so großmütig der Aufgabe gewidmet hatten, einen Mann aus ihm zu
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