Verführt: Roman (German Edition)
ergeben.
Jeremiah Digby mochte den Rest der Welt mit redseliger Geringschätzigkeit gestraft haben, doch seine geliebten Kanonen hatte er mit Zuneigung überschüttet. Die Geschützrohre glänzten im Mondlicht, das durch die Kanonenluken fiel, als hätten die Hände eines Liebenden sie poliert. Zu Füßen Tams hatte Lucy genug über die Feinheiten der Piraterie gelernt, um zu wissen, dass der Kapitän nur im dringlichsten Notfall, dann, wenn jede List gescheitert war, den Feuerbefehl gab.
Sie hockte sich neben eine der Kanonenluken und sah die Argonaut durch tintenblaue Wogen direkt auf den Bug der Retribution zupflügen, um sie dann zu entern. Lucy konnte sich schlicht keinen dringlicheren Notfall als diesen vorstellen. Das Kriegsschiff malte seine silbrig glänzende Fahrrinne auf die Leinwand der Nacht wie eine schimmernde Straße zum Himmel. Oder in die Hölle.
»Auf was zur Hölle wartet er noch?«, grummelte einer der Kanoniere. »Auf eine Einladung?«
Lucy hätte ihm zugestimmt, wäre sie nur fähig gewesen, an dem eisigen Klumpen aus Angst, der ihr im Hals steckte, einen einzigen Ton vorbeizupressen.
Ihrem Magen erging es auch nicht besser, als der Vierundsiebzig-Kanoner vor der Kanonenluke zu monströser Größe anwuchs und sowohl den Mond als auch den Himmel verdeckte. Das Kanonendeck versank in tiefer Dunkelheit, und die blakenden Laternen warfen mehr Schatten als Licht.
»Tu etwas«, flüsterte sie. »Irgendetwas.«
Als wolle es ihr den verwegenen Wunsch erfüllen, neigte sich die schmale Galerie aus Eichenholz mit lautem Knirschen nach Backbord und schickte sie alle quer über den sandbedeckten Boden. Lucy suchte nach irgendetwas zum Festhalten, stolperte nach Steuerbord zu den Geschützen und fiel schließlich auf die Knie, weil der Gleichgewichtssinn sie verließ.
Sie lobte sich für ihre Weitsicht. Auf den Knien fiel man wenigstens nicht mehr so tief, wenn der Todeskampf begann. Denn so, wie es aussah, hatte Gerard jeden Fetzen Segel gesetzt, der sich hatte finden lassen und sie auf Kollisionskurs mit der Argonaut gebracht.
»Jesus, der Captain ist verrückt geworden«, jammerte ein dürrer Bursche, der plötzlich wieder wie zwölf aussah, und nicht wie die siebzehn, die er vorgegeben hatte, um eine der begehrten Kojen auf der Retribution zu ergattern.
Lucy legte einen Arm um die nächstbeste Kanone und bereitete sich auf den Zusammenstoß vor. Sie hätte so gerne die Augen zugekniffen, aber sie konnte den Blick nicht von der drohenden Zerstörung lösen. Eine sonderbare Heiterkeit befiel sie und besänftigte den Schrecken. Wenigstens würde Gerard nicht wegen der Willkür anderer Leute sterben, sondern aufrecht auf der Brücke seines Schiffs stehend, seines eigenen Schicksals Herr. Tränen des Stolzes brannten in ihren Augen, wütend und heiß.
Sie schnitten durchs indigoblaue Wasser auf das riesige Kriegsschiff zu. Lucy konnte schon die winzigen Gestalten erkennen, die panisch aufs Deck kletterten. Für die Argonaut war es zu spät, um zu verhandeln oder wenigstens noch zu wenden. Ihre Besegelung war viel zu kompliziert, ihr massiges Gewicht viel zu schwerfällig. Ihre schiere Größe verdammte sie zum Untergang.
Was sich von der Retribution nicht behaupten ließ. Kurz vor dem Aufprall, kurz vor jenem schicksalhaften Moment, in dem der Schrei sich in blinder Angst aus Lucys Kehle lösen wollte, drehte der Schoner ab und schrammte mit einem Getöse, das Lucy die Hände an die Ohren schlagen ließ, an der Schiffswand der Argonaut entlang. Das riskante Manöver hatte seinen Preis. Irgendwo oben an Deck brach mit dem makabren Knarzen splitternder Knochen ein Mast.
Ein mächtiger Schrei war zu hören: »Feuer!«
Lucy gaffte ihre Schicksalsgenossen an und fragte sich, ob ihre eigene Miene wohl ebenso ulkig wirkte. Die Erkenntnis kam mit der Geschwindigkeit einer Stichflamme. Gerards brillantes, gefährliches Manöver hatte das kleinere, leichtere Schiff unter die Kanonen des Kriegschiffs gebracht und den Stolz der königlichen Flotte zu einem zahnlosen Tiger degradiert. Gerard riskierte zwar Schäden am eigenen Schiff, wenn er aus derart kurzer Distanz feuerte, aber das Risiko war wohl kalkuliert in Anbetracht der scheinbar aussichtslosen Lage.
Sie hätten vielleicht ewig wie versteinert dagestanden, wäre nicht auf dem oberen Geschützdeck eine Kanone abgefeuert worden und hätte nicht eine ärgerliche Stimme, die Lucy nur allzu gut kannte, geschrien: »Hallooo! Schlaft ihr gut da
Weitere Kostenlose Bücher