Verführt: Roman (German Edition)
unten?«
Die Kanoniere und die Schießpulveräffchen stürzten sich wie ein Mann in das komplizierte Menuett, an dessen Ende ihre Kanonen gleichzeitig eine Breitseite feuern würden.
»Die ist für Digby, ihr verfluchten Bastarde!«, brüllte einer der Kanoniere, als er den zischenden Zunderspan an die Lunte legte.
Die Kanone gab ihm ihre donnernde Antwort. Das hätte Digby gefallen, dachte Lucy.
Die Zeit schien stillzustehen auf der engen Galerie. Da war nur noch der beißende Gestank des brennenden Schießpulvers, das ohrenbetäubende Donnern der Kanonen und der bebende Protest der Retribution , so nahe an ihre Beute herangebracht worden zu sein. Lucy zählte schon lange nicht mehr mit, wie oft sie über den schwankenden Boden rannte, die Arme schmerzend vom Gewicht der eisernen Kanonenkugeln und der Schießpulverfässchen.
Der Rauch brannte ihr in den Augen; die Hitze versengte ihr die Finger; das Schießpulver schwärzte ihr Arme und Hände. Aber sie machte weiter, getrieben vom Rausch der Schlacht. Nach einem auf Gehorsam getrimmten, verschwendeten Leben hatte sie endlich jemanden gefunden, für den es sich zu kämpfen lohnte.
Wie David, der Goliath mit einem Stein und einer Schleuder besiegt hatte, pumpten sie Schuss auf Schuss in die Seite der Argonaut. Lucy war wieder dabei, eine Kanonenkugel hochzuhieven und blindlings zur Geschützluke zu stolpern, als einer der Kanoniere sie am Arm packte.
Seine Lippen bewegten sich mit Schwindel erregender Hast. Lucy schaute ihn verständnislos mit finsterer Miene an. Das knarrende Holz knisterte in ihren Ohren, doch von dem, was er sagte, verstand sie kein Wort. Der Kanonier begriff das Dilemma, nahm ihr die Kanonenkugel aus den verkrampften Fingern und führte sie vorsichtig zu einer der Geschützluken.
Nachdem sie kaum einen Schuss aus den riesigen Kanonen gefeuert hatte, trat die Argonaut den Rückzug an.
Die Kanoniere und die Schießpulveräffchen sprangen wie junge Fohlen herum und klopften einander auf die Schulter. Lucy hätte gerne mitgefeiert, doch sie bemerkte mit einem Mal, dass sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie gähnte herzhaft, sank an einem Schott zusammen und benutzte die gefalteten Hände als Kissen.
Was exakt die Körperhaltung war, in der Gerard sie sechs Stunden später vorfand.
Er hatte bis zum Morgengrauen gebraucht, sich mit seinem angeschlagenen Schiff in die ruhige Bucht einer auf keiner Karte verzeichneten Insel vor der Küste Teneriffas zu schleppen. Dann hatte er Apollo das Kommando übergeben, um seinen müden Körper in der Kapitänskajüte auszuruhen, wobei ihm die Vorstellung, Lucy in seinem Bett zusammengerollt vorzufinden, über die Erschöpfung hinweggeholfen hatte.
Doch er fand die Kajüte leer vor, und das zerwühlte Bettzeug lag noch genauso am Boden, wie er es zurückgelassen hatte. Er durchkämmte das Schiff vom Bug bis zum Heck, von Minute zu Minute kränker vor Sorge.
Als er schließlich das untere Kanonendeck betrat, um dort ans Schott gelehnt jenes schlaffe Bündel zu entdecken, blieb ihm fast das Herz stehen.
Erschrocken über die plötzliche Blässe seines Kapitäns, stürzte einer der Kanoniere herbei, wobei er immer noch die Whiskyflasche umklammert hielt, die ihm Gesellschaft geleistet hatte, nachdem seine Kameraden den Unmengen an Rum und Aufregung Tribut gezollt hatten.
»Sie ist fix und fertig, Sir. Was kein Wunder ist. Sie hat letzte Nacht hervorragende Arbeit geleistet.« Die geröteten Augen des Burschen strahlten bewundernd. »Können sehr stolz auf sie sein, Sir.«
Gerards Herz fand seinen Rhythmus wieder, wenn auch einen etwas schnelleren. Er musste den Schock erst verdauen. Der Mann, den Lucy neunzehn Jahre lang für ihren Vater gehalten hatte, hatte gerade versucht, sie umzubringen, doch anstatt einen hysterischen Kollaps zu erleiden, hatte sie sich in die Schlacht geworfen und ganz selbstverständlich an der Seite Gerards gekämpft.
Er sank neben ihr auf die Knie und zählte jeden ihrer kostbaren Atemzüge unter dem zerrissenen Hemd mit. Er strich ihr das zerzauste Haar zurecht. Als er ihr kleines, schmutziges Gesicht sah, ganz friedlich unter seiner Maske aus Schießpulver, überkamen ihn zärtlichste Gefühle. Das schlechte Gewissen, Lucy wegen eines selbstsüchtigen Rachefeldzugs in höchste Gefahr gebracht zu haben, verstärkte seine Empfindungen noch.
Mit dieser seltsamen Mischung aus würdevollem Hochmut und kindlicher Unschuld, die sein abgestumpftes
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