Verführt: Roman (German Edition)
Blätter aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Aber er räkelte sich nur und genoss es, die rastlosen Muskeln zu dehnen.
Neben ihm kam ein Räuspern aus zarter Kehle. Gerard schaute auf und fand Miss Snows volle Lippen missbilligend geschürzt. Wäre es physikalisch nicht unmöglich gewesen, er hätte geschworen, sie blicke mit hoch erhobenem Näschen auf ihn herab.
»Tut mir schrecklich Leid, dass ich das Frühstück versäumt habe«, sagte er und schnupperte dem Kuchenduft nach, der sie umgab. »Der Zitronenkuchen war sicher ganz wunderbar.«
Ihre Replik blieb ihm erspart, weil jetzt die Kutsche übers Kopfsteinpflaster klapperte. Welch eine Schande, an einem perfekten Tag wie diesem in einem geschlossenen Wagen zu reisen! Er hatte auf einen offenen Landauer gehofft oder vielleicht sogar auf einen sportlichen Zweisitzer, den er selber hätte lenken dürfen. Doch auf dem Bock hockte wie eine lauernde, verschrumpelte Spinne schon Fenster, der ältliche Kutscher, den alle nur Fenn nannten, und trug eine Miene zur Schau, die noch sauertöpfischer war als die seiner Mistress.
Lucy legte die behandschuhte Hand auf Claremonts Arm und lächelte süßlich zu ihm auf. »Ich hoffe, das Schwanken der Kutsche verschlechtert nicht Ihre…« Sie schaute sich um, als wolle sie sicher gehen, dass kein ungewollter Zuhörer sein Schamgefühl verletzte, und flüsterte schließlich: »Ihre unglückselige Verfassung .«
Er weigerte sich, sich von ihrem Charme entwaffnen zu lassen, und tippte an seinen Hut. »Ihre Anteilnahme rührt mich zutiefst, Miss Snow, aber auf Kutschfahrten pflege ich im Allgemeinen nicht seekrank zu werden.« Er öffnete ihr den Schlag.
Unterstützt von einem Diener, stieg Lucy in die Kutsche und wollte Gerard vor der Nase den Schlag zuhauen. Doch der entledigte sich mit Hilfe der Ellenbogen des Dieners, kletterte ihr hinterher und nahm auf der Bank gegenüber Platz.
Über solche Dreistigkeit entrüstet, kauerte sich Lucy zu einem mürrischen Knäuel zusammen, damit sich wenigstens ihrer beider Knie nicht berührten.
Sie hatte sich von jeher ihrer Selbstständigkeit gerühmt und verabscheute den Gedanken, einem Mann, der kaum mehr war als ein Söldner, ihr Privatleben zu offenbaren.
Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, platzte es aus ihr heraus: »Könnten Sie mich nicht effektiver beschützen, wenn Sie außerhalb des Wagens beim Kutscher säßen? Was, wenn Straßenräuber uns auflauern? Oder Piraten? Oder … oder … Indianer?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Es war mir nicht bewusst, dass man in Chelsea mit Indianerüberfällen rechnen muss.« Er betrachtete das seidige Haar, das unter ihrem Hut hinabströmte. »Ich muss allerdings zugeben, dass Ihr Skalp eine Trophäe wäre, der auch der zivilisierteste Wilde nur schwer widerstehen könnte.«
Die mit schläfrigem Blick vorgetragene Feststellung machte Lucy nervös. »Umso mehr ein Grund, zu Fenn auf den Kutschbock zu steigen.«
Er seufzte, als sei er mit einer enormen Geduld gesegnet, die außerhalb ihres Horizonts lag. »Ihr Vater soll Reiter einstellen, die die Kutsche von außen schützen, wenn ihm das vernünftig erscheint. Aber als Ihr persönlicher Leibwächter ist es meine Pflicht, an Ihrer Seite zu bleiben.« Ein Anflug von Widerwillen lag auf seinen Zügen. »Und zwar jede Stunde.«
Lucy fand diese Aussicht beinahe so unerträglich wie den Mann selbst. Blind für ihr Entsetzen, zog Mr. Claremont ein ledergebundenes Buch aus der Jackentasche und fing zu lesen an. Lucy tat, als zöge sie ihre Handschuhe zurecht, und studierte ihn im Schutz ihrer geschwungenen Hutkrempe.
Mit diesen hausbackenen Augengläsern auf der Nase und dem milden Gesichtsausdruck wirkte er eher wie ein Schulmeister als wie ein Glücksritter. Was würde er tun, wenn sie wirklich von Straßenräubern überfallen wurden? Die Kerle mit dem Rohrstock verprügeln oder ihnen mit dem Buch auf die Finger klopfen?
Die Vorstellung, wie er sich in der Auffahrt gestreckt hatte, als sie auf die Kutsche gewartet hatten, machte ihre Abneigung nur noch größer. Wie ein wildes Tier, das zu lange im Käfig gesessen hatte, hatte er unter dem braunen Tuch des Cutaway seine Muskeln gedehnt. Das Vergnügen, das dieser flegelhafte Akt ihm bereitet hatte, war höchst beunruhigend.
Sie runzelte die Stirn und mühte sich herauszufinden, woher ihre spontane Abneigung gegen diesen Mann rührte. Womöglich lag es an seiner überwältigenden Körpergröße. Jedes Mal, wenn sie ihn sah,
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