Verführt: Roman (German Edition)
offensichtlich auch keinerlei Skrupel, ihren Vater zu unterbrechen.
Die linke Augenbraue ihres Vaters wanderte eine Stufe nach oben. »Und warum nicht?«
»Was würde es Ihrer Tochter nutzen, wenn ich im Keller vergraben bin? Ich brauche eine Unterkunft mit freiem Blick auf ihr Fenster.«
Lucy machte sich im Geist eine Notiz, allzeit die Vorhänge geschlossen zu halten.
Der Admiral grummelte eine Zeit lang leise vor sich hin, dann gab er nach. »Nehme an, das lässt sich arrangieren. Es gibt da ein Pförtnerhaus. Auch wenn Fenn es schlecht aufnehmen wird, vertrieben zu werden.«
»Falls dieser Fenn nicht meinen Job übernehmen will, muss ich darauf bestehen, fürchte ich.«
»Also gut«, sagte ihr Vater. »Sie beginnen morgen früh. Smythe lässt Ihnen eine schriftliche Kopie von Lucys Tagesplan zukommen. Sie steht pünktlich um sechs Uhr null auf und kommt um acht Uhr null zum Frühstück. Von neun Uhr null bis elf Uhr null ist sie in der Bibliothek und transkribiert meine Memoiren.«
»Ein faszinierendes Unterfangen, da bin ich sicher.«
Lucy runzelte die Stirn. War da eine Spur von Sarkasmus in Mr. Claremonts ausdrucksstarker Stimme? Falls ja, hatte ihr Vater es glücklicherweise überhört.
»Aber selbstverständlich«, sagte der Admiral und fuhr fort: »Von elf Uhr dreißig bis dreizehn Uhr null nimmt sie den Lunch ein und kann sich nach Belieben auf eventuelle soziale Verpflichtungen am Nachmittag vorbereiten.«
Waren das Claremonts Augen oder die Gläser davor, die zu beschlagen begannen, fragte sich Lucy.
»Falls sie keine Verpflichtungen hat …«, dröhnte der Admiral weiter, »… nimmt sie um fünfzehn Uhr null den Tee ein und darf von sechzehn Uhr null bis siebzehn Uhr null mit ihren Wasserfarben dilettieren. Dann zieht sie sich zum Dinner um, das um neunzehn Uhr null serviert wird. Allerdings bin ich abends häufig außer Haus, um die Admiralität in Strategiefragen zu unterweisen. Und falls ich Gäste habe, wird von Lucy erwartet, bei einem späten Souper als Gastgeberin zu fungieren. Um präzise zweiundzwanzig Uhr null. Natürlich bewegen sich all ihre Aktivitäten im Rahmen der gesellschaftlichen Regeln, die für Mädchen ihres Alters und ihrer Position gelten. Also Nachmittagstees, Bälle, Theaterbesuche, Ausfahrten et cetera, et cetera.« Der Admiral entspannte sich und lächelte seine total gefangene Zuhörerschaft an. »Ich musste feststellen, dass ein produktives Leben ein glückliches Leben ist. Da stimmen Sie doch zu, oder?«
»Zweifelsohne.« Claremonts Lächeln entbehrte der früheren Verve.
Die schmucklose Messinguhr auf dem Kaminsims schlug die volle Stunde. Lucy erhob sich und knickste makellos. »Darf ich gehen, Vater? Es ist Zeit, mich zum Dinner umzukleiden.«
Der Admiral prüfte sein Chronometer, dann nickte er seine Zustimmung. Als Lucy die Flucht antreten wollte, stand Claremont auf und trat ihr in den Weg. Sie war gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, um seinen Blick erwidern zu können und nicht als so ungehobelt zu gelten, wie er es war. Seine warmen Finger legten sich um ihre, und er drückte sich ihre fest zur Faust geballte Hand nicht an die Lippen, sondern ans Herz. Lucy konnte ihn nur wütend ansehen und war viel zu geschockt über seine Vertraulichkeit, um ihm ihre Hand zu entreißen.
»Haben Sie keine Angst, Miss Snow«, sagte er gedehnt, die Stimme mit Spott verbrämt. »Ich verspreche Ihnen, Ihr Leben wird mir so teuer sein wie mein eigenes.«
Korrespondenzen beantworten – 07:00
Visitenkarten nach Rang und Alphabet ordnen – 12:30
Gerard Claremont starrte den Stundenplan an. Der Plan in der militärisch akkuraten Handschrift des Butlers war früh morgens unter der Tür des Pförtnerhauses durchgeschoben worden. Wie es schien, hatte Claremonts bombastischer Dienstherr ein paar aufregende, schillernde Details weggelassen, als er den Tagesplan seiner Tochter referiert hatte. Die Zeitungen sichten, ob irgendwo sein Name erwähnt war, oder die Messingknöpfe seiner Uniform polieren, zum Beispiel. Gerard war überrascht, dass der Admiral ihr nicht minutengenau vorgeschrieben hatte, wann sie den Nachttopf zu benutzen hatte.
»Ein produktives Leben ist ein glückliches Leben«, äffte er boshaft den Admiral nach, zerknüllte den eleganten Pergamentbogen und warf ihn in das Feuer, das die Kälte der herbstlichen Nacht vertreiben sollte.
Befriedigt sah er den Bogen zu Asche zerfallen. In den umschatteten Augen des Mädchens war keine Fröhlichkeit
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