Verführt: Roman (German Edition)
zu sehen gewesen.
Er rieb sich geistesabwesend das glatt rasierte Kinn, während er auf und ab lief. Ebenso spartanisch ausgestattet wie die Räumlichkeiten im Haupthaus, war das lange, schmale Zimmer im Pförtnerhaus dazu ideal. Keine überladenen Ottomanen, an die man hätte stoßen können, keine Porzellanfiguren, die man mit den Ellenbogen erwischte. Nur eine hölzerne Bettstatt mit einer alten Federdecke und einem abgenutzten, aber zweckdienlichen Quilt, ein hoher Garderobenschrank, ein runder Tisch, ein Nachtkästchen und vier zerkratzte Heppelwhite-Stühle, die ihre besten Tage hinter sich hatten und vermutlich aus dem Speisezimmer ausrangiert worden waren. Keine Spur mehr von dem grummelnden Kutscher, der einunddreißig Jahre hier gewohnt und den Gerard unbeabsichtigterweise vertrieben hatte.
Der raue Holzboden knarrte unter Gerards wütenden Schritten. Sein ganzes hart erarbeitetes Projekt schien für die Katz zu sein. Er hatte erwartet, einen wichtigtuerischen Kriegshelden zu beschützen, der seinen Zenit längst überschritten hatte. Wie sollte er seine Pläne in die Tat umsetzen, wenn er Kindermädchen für ein anmaßendes Fräulein spielen sollte, das völlig unter der Fuchtel seines Vaters stand? Der Admiral behauptete, seine Tochter vor Doom schützen zu wollen, doch Gerard hegte den Verdacht, dass der Alte sich nur vor dem schützen wollte, was Doom seiner Tochter möglicherweise enthüllte, so sie wieder in seine Hände fiel.
Er hatte feststellen müssen, dass Lucy die einzige Frau war, die Lucien Snow in seiner Umgebung duldete. Sogar das Hauspersonal bestand aus ehemaligen Seeleuten, die einst unter dem Admiral gedient hatten, die ihm gebührend lobhudelten und blind gehorchten. Genau wie seine Tochter.
Je größer sein Zorn wurde, desto mehr schien um ihn herum das Pförtnerhaus zu schrumpfen. Die hohen Zimmer waren geräumig und im Vergleich zu den meisten seiner früheren Behausungen fast schon luxuriös. Aber das Gefühl der Beengtheit wuchs, bis schwarzer Rauch und die Flammen des Kaminfeuers vor seinen Augen waberten, als wollten sie ihn versengen.
Er stieß die Tür auf und flüchtete ins Mondlicht, sog durstig die kühle Nachtluft ein, in der schon der Herbstduft hing. Er dehnte die zitternden Finger, als wolle er sicher gehen, dass sie keine skelettierten Reste waren. Er verfluchte sich für seine Schwäche, zog eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie in der Hoffnung an, der würzige Rauch werde seine zittrigen Finger beruhigen und seine Nerven.
In der Ferne bellte traurig und doch seltsam tröstlich ein Hund. Im Schatten der Ziegelmauer, die das maßvolle Anwesen umgab, legte er den Kopf zurück und studierte das Firmament. Die vertrauten Sternbilder tanzten wie Tupfen aus Kristall vor seinen rastlosen Augen. Sie hatten ihn an vielerlei Orte geführt, manche waren exotisch gewesen, manche gefährlich, manche von atemberaubender Schönheit – doch dass sie ihn an einen Ort wie diesen geleiten würden, hätte er sich nie erträumt.
Widerwillig blickte er zu dem Fenster im zweiten Stock hinüber, das der Admiralstochter gehörte. Es war das einzige an der Vorderfront des gelblichen Backsteinhauses, das Vorhänge trug, Bahnen aus Spitze und Damast, die jetzt zurückgezogen waren und den Blick auf ein erhelltes Schiebefenster freigaben. Er hatte im Pförtnerhaus untergebracht werden wollen, um den neugierigen Blicken der Dienerschaft zu entgehen. Er hätte besser einen Weg gesucht, die bittere Schicksalswendung zu seinem Vorteil zu nutzen, anstatt Lucys Fenster anzustarren, verfolgt von großen grauen Augen und üppigen Lippen, die so gar nicht zu dem verkniffenen kleinen Gesicht passen wollten.
Er erinnerte sich an ihre kühle Hand, den akzentuierten, kultivierten Tonfall, den widerspenstigen Funken in ihren Augen, wann immer sie ihn ansah.
Er hatte den Atem angehalten und darauf gewartet, dass ihr Vater mit seiner Tyrannei den Funken zum Lodern brachte. Aber er hatte ihn nicht entzündet, und Lucy hatte wie ein abgerichteter Terrier vor ihrem Vater Haltung angenommen. Wie einst das große Einmaleins hatte sie pflichtschuldig ihren drohenden Tod heruntergebetet, sollte sie Doom wieder in die Hände fallen. Gerard sah sie das Ganze schon in ihren Stundenplan eintragen:
08:00 – der Folter widerstehen
08:30 – über Bord springen
09:00 – von Haien gefressen werden
Für den noblen Admiral und die Königliche Kriegsmarine Seiner Majestät war kein Opfer zu
Weitere Kostenlose Bücher