Verführt: Roman (German Edition)
»Kommen Sie schon, Mr. Claremont. Sie waren es doch, der gesagt hat, dass man zum Schutz der Kutsche Reiter einstellen sollte. Aber Ihre Pflicht ist es, mich im Auge zu behalten.«
Gerard starrte sie über Sylvies Kopf hinweg an und warnte sie, dass er es liebte, sie im Auge zu behalten. Später. Privat.
Sie ließ ihm keine andere Wahl, als den laubbedeckten Hang hinauf Sylvies Geplauder zu folgen. Sie mussten ein paar tobenden Kindern ausweichen, bis sie eine auf dem schlecht getrimmten Rasen ausgebreitete Decke erreichten. Ein riesenhaftes Baby saß in der Mitte, der Gesichtsausdruck gelassen wie der eines wohlgenährten Buddhas.
Ein uniformierter Mann und eine heiter gekleidete Dame winkten fröhlich vom Rasenplatz am Fuße des Hügels herüber. Gerard vermutete in ihnen die Eltern der bemerkenswerten Kinderschar.
»Es war Mutters Idee, im Freien zu frühstücken, solange das Wetter noch so mild ist«, erklärte Sylvie, während sie an einem üppig beladenen Teewagen einen Porzellanteller füllte.
Sie drückte Lucy den Teller in die Hand. Lucy starrte mit unverhohlenem Verlangen die Rühreier an, den Schinken und die frisch gebackenen Brötchen mit Marmelade. Dann warf sie einen verstohlenen Blick auf die silberne Uhr, die an ihrem Mieder steckte. Gerard hielt es nicht länger aus.
Er nahm ihr den Teller aus der Hand. »Jetzt aber, Miss Snow«, schalt er sie. »Sie wissen, dass Sie erst um halb zwölf wieder etwas zu essen bekommen. Was soll denn der Admiral sagen?«
Genau wie er es erwartet hatte, schnappte sich Lucy den Teller zurück. Die grauen Augen funkelten vor Trotz. »Sie sollten nicht vergessen, wo Ihr Platz ist, Sir. Meine Essensgewohnheiten gehen Sie nichts an.«
Sylvie gaffte sie mit offenem Mund an, und Gerard fragte sich, ob sie Lucy wohl zum ersten Mal die Zähne zeigen sah. Sie fletschte sie, wie es schien, nur, wenn ihr Vater nicht dabei war. Sylvie schien der Anblick durchaus zu gefallen, soweit sich das aus ihren strahlenden Augen schließen ließ. Gerards Respekt vor dem Mädchen kletterte um eine weitere Stufe nach oben.
Während sich ihre Gastgeberin mit Gerards Teller befasste, okkupierte Lucy die äußerste Ecke der Decke und zog die Handschuhe aus. Sie nahm ein paar winzige Bissen vom Schinken, als hätte sie Angst, er werde ihr den Teller sonst wieder wegnehmen. Gerard widmete sich genussvoll seinem Festessen, der vertrocknete Frühstückskuchen nur noch eine vage Erinnerung.
»Alles in allem sind wir zwölf.« Sylvie sparte sich jegliche Floskeln. »Ich bin die Älteste, und Gilligan hier ist der Jüngste. Mama sagt immer, dass Papa ihr jedes Mal, wenn er auf See ging, zur Erinnerung an ihn etwas dagelassen hat.«
Während Sylvie in der ungekürzten Familiengeschichte schwelgte, stellte Lucy sich vor, was der Admiral wohl sagen würde, wenn er sie mit den Fingern Schinken essen sähe. Um Schlag zehn.
Sylvie schüttelte traurig den Kopf. »Keiner hat Gilligan je ein Wort sagen hören. Aber wir glauben, er ist vielleicht wie Christopher, der fast schon vier Jahre war, als er mit Sprechen anfing.«
Vermutlich, weil er die ganze Zeit über nicht zu Wort gekommen ist, überlegte sich Lucy herzlos. Ob Lucy etwas Kluges zu sagen hatte, spielte in Sylvies Anwesenheit nie eine Rolle, weil Sylvie die ganze Konversation allein übernahm. Von Lucy wurde nur ein gelegentliches Nicken erwartet oder zustimmendes Gemurmel.
Die modische Lockenfrisur ihrer Freundin wippte, während sie beschrieb, wie Philip die Mansardentreppe hinuntergefallen war, dass einem praktisch das Blut in den Adern gefror. Lucy hatte es nie jemandem erzählt, aber sie stellte sich ihre Mutter ganz genau wie Sylvie Howell vor. Von unerschütterlich guter Laune. Ein bisschen flatterhaft. Und hübsch. Atemberaubend hübsch.
Sie riskierte einen Blick auf ihren Leibwächter, der inzwischen völlig berauscht sein musste. Aber Claremont war damit beschäftigt, die Spaniels mit Schinken und das Baby mit kleinen Brotstücken zu füttern und dabei die Hände nicht durcheinander zu bekommen.
Sie betrachtete ihn mit neuen Augen – Sylvies Augen. Anders als den meisten Männern gereichte ihm das unerbittliche Sonnenlicht zum Vorteil. Es akzentuierte die kleinen Falten an den Augenwinkeln und wärmte die nicht der Mode entsprechende gebräunte Haut zu einem honigfarbenen Bronzeton. Wie alt er war, ließ sich schwer sagen, aber offensichtlich hatte er einen Großteil seiner Tage im Freien verbracht.
Er hatte ein einnehmendes
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