Verführt: Roman (German Edition)
schien er wieder ein Stück gewachsen zu sein. Jetzt musste sie sich sogar in die Lederpolster drücken, um seinen langen, muskulösen Schenkeln zu entgehen, die sich unter dem Wildleder seiner Hose allzu deutlich abzeichneten. Jedes Mal, wenn die Kutsche auf der lehmigen Straße über eine Wurzel holperte, stießen ihrer beider Knie zusammen. Seine Anwesenheit erdrückte sie und machte sie kurzatmig, als gäbe es in der Kutsche nicht genügend Luft für sie beide.
Vielleicht war es aber auch sein Benehmen, das sie störte – dieses raffinierte Jonglieren mit Ehrerbietung und Überheblichkeit. Sie ermahnte sich, dass er der Arbeiterklasse angehörte. Er war kein Gentleman, und es war nicht fair, ihn nach ihresgleichen zu beurteilen. Ihr angeborener Sinn für Gerechtigkeit gebot es, ihm eine zweite Chance zu geben.
Als höfliches Hüsteln keine Wirkung zeigte, setzte sie ein steifes Lächeln auf und begann: »Darf ich fragen, was Sie da lesen, Sir?«
Sein Blick blieb auf die Buchseite geheftet. » Robinson Crusoe von Mr. Daniel Defoe. Kennen Sie es?«
Lucy schüttelte vehement den Kopf. »Oh nein! Vater hält nichts von erfundenen Geschichten. Er sagt, sie schwächen den Verstand.«
Claremont warf ihr über den Buchrücken hinweg einen unergründlichen Blick zu. »Und was sagen Sie?«
Lucy konnte ihn nur verständnislos anstarren. Nie zuvor hatte sie jemand nach ihrer Meinung gefragt.
Er lüpfte offenkundig amüsiert eine Augenbraue. »Sind Sie sicher, Miss Snow, dass Sie noch nie heimlich einen Roman gelesen haben?«
Gerard grub seine Nase wieder ins Buch und war sicher, dass sie einige Zeit brauchen würde, bis sie begriff, dass er sie beleidigt hatte. Er war sich völlig der Tatsache bewusst, dass man der braven Miss Snow nie erlaubt hätte, mit einem Mann aus ihren eigenen gesellschaftlichen Kreisen ohne Anstandsdame auszufahren. Doch Claremonts Dienstbotenstatus entmannte ihn quasi, wenn es nach dem Admiral ging. Wenn es nach Lucy ging, mutmaßlich auch. Doch diese Ironie wollte ihn nicht recht amüsieren.
Als Mr. Claremont partout nicht zu lesen aufhörte, entschloss sich Lucy, ihn per Schockmethode aus seiner hämischen Selbstgefälligkeit zu holen.
»Ich bin eventuell der einzige Mensch, der ein Zusammentreffen mit Captain Doom überlebt hat und davon erzählen kann«, verkündete sie.
Claremont reagierte mit einem ungerührten Grunzen.
»Dieser Schurke ist absolut skrupellos. Zum Glück haben sie mir die Augen verbunden, denn ein Blick aus seinen bösen Augen reicht, einen zu versteinern. Sein Schiff kommt aus dem Nebel wie der Wagen Satans aus der Hölle. Manche behaupten, er sei der Geist von Captain Kidd, der über die Meere jagt und Rache an den Investoren nimmt, die ihn betrogen haben.«
Claremont ließ langsam das Buch sinken. Lucy wusste, dass sie plapperte, aber jetzt, da sie seine Aufmerksamkeit hatte, war sie auch nicht mehr bereit, damit aufzuhören. Sie quasselte weiter, plusterte schamlos die Geschichten auf, die sie von den Matrosen der Tiberius gehört hatte. »Er trägt eine abscheuliche Halskette aus menschlichen Ohren. Er reißt seinen Opfern mit bloßen Händen die Herzen heraus und verfüttert sie an die Haie, während sie noch schlagen. Zum Frühstück trinkt er Menschenblut, und er ist berühmt dafür, seinen Gefangenen den Text des Piratenkontrakts in die Brust zu ritzen.«
Claremonts Augen senkten sich auf die schneeweiße Haut, die das modische Dekolleté ihres Mieders den Blicken darbot. »Sie scheinen recht unbeschadet geblieben zu sein. Noch nicht mal eine Sommersprosse.«
Von seiner forschenden Musterung verunsichert, zog sie sich sittsam die Stola um die Schultern. »Ich hatte Glück.« Sie senkte das Haupt und war sich weder ihres verträumten Gesichtsausdrucks bewusst, noch dessen erstaunlicher Wirkung auf ihren Begleiter. »Doom ist vollkommen gnadenlos, wenn es um sein eigenes Vergnügen geht. Er soll in einer einzigen Nacht zehn unschuldige Mädchen geschändet haben«, fuhr sie fort. »Noch bevor es Mitternacht war«, setzte sie inspiriert hinzu.
Gerard war hypnotisiert von dem rosigen Hauch auf Lucys Wangen und dem sinnlichen Schwung ihrer Lippen, die darum flehten, geküsst zu werden. Er begriff, dass es nicht ihr Gesicht gewesen war, das so verhärmt gewirkt hatte, sondern ihr Gesichts ausdruck . Er hatte sich nie für den Typ Mann gehalten, der ein Gespenst beneidete, doch jetzt krallte er die Finger in den Umschlag des Buchs und verbarg sein Gesicht
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