Verführt: Roman (German Edition)
ramponierten Spitzenhandschuhen. Gerard musste sich anstrengen, ihre leisen Worte zu hören. »Nein, schon vorher. Als ich diese Leute gesehen habe.« Sie hob die traurigen grauen Augen. »Warum habe ich so viel, wenn sie doch so wenig haben?«
Er hatte keine Antwort. Es war genau diese Frage, die ihn sein Leben lang beschäftigt hatte. »Hat es Ihr Gewissen beruhigt, sich von dieser Frau ausschimpfen zu lassen und ihr Geld anzubieten?«
»Sie hat mir so Leid getan.«
»Sie haben gesehen, was sie von Ihrem Mitleid gehalten hat.«
Lucy machte große Augen, als ihr die Erkenntnis dämmerte. »Sie wollte meine Freundlichkeiten nicht, oder? Sie wollte einen Grund für ihre Wut. Sie hat die Wut gebraucht . Damit sie an ihrem Stolz festhalten konnte. Woher wussten Sie das?«
»Ganz einfach, meine Mutter war eine Hure.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit antrainierter Arroganz. Er wartete auf das angewiderte Flackern in ihrem Blick, das auf sein Eingeständnis folgen musste, auf den von Höflichkeit maskierten Ekel und das verschleierte Mitleid, das seinen aufkeimenden Respekt vor Lucy abtöten würde.
Ein versonnenes Lächeln war das Letzte, das er erwartete. »Genau wie meine. Allerdings hat sie für ihre Gunstbezeugungen kein Geld genommen – das hat man mir jedenfalls erzählt.«
Gerard kämpfte noch gegen die Überraschung an, als am Fenster der Kutsche einer der Diener auftauchte, der seine Ungeduld kaum verbergen konnte. »Sollen wir weiterfahren, Mylady?«
Lucy wrang eine Falte ihres Rocks aus. Ihr brüchiges kleines Lachen klang eher wie ein Schluckauf. »Lady Cavendish würde in Ohnmacht fallen, wenn ich in solch erbärmlichem Zustand vor ihrer Tür stünde. Uns bleibt nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren.«
Lucys kläglicher Versuch, gute Laune zu verbreiten, spornte Gerard an. Er hob die Hand. »Bleiben Sie hier stehen«, kommandierte er. »Ich bin sofort wieder da.«
Er hatte sich in den Regen hinausgeduckt, bevor Lucy ihn noch an seinen Gehrock erinnern konnte. Also kuschelte sie sich tiefer hinein und tröstete sich mit dem maskulinen Lorbeerduft, der in den rauen Fasern des Stoffs hing.
Die Arme voller Päckchen und über zwanzig Minuten später tauchte Mr. Claremont wieder auf. Er sank auf die Sitzbank gegenüber, band sein Halstuch auf und warf mit achtloser Handbewegung seinen Hut zur Seite. Das durchweichte Hemd klebte an den Schulten. Im Brusthaar, das im offenen Kragen zu sehen war, glänzten die Regentropfen.
Er räusperte sich dezent. Peinlich berührt, beim Gaffen erwischt worden zu sein, riss Lucy den Kopf hoch. Claremonts vertrautes amüsiertes Lächeln war wieder da.
Lucy betrachtete durchs Fenster die verregnete Aussicht, um ihren Verdruss zu verbergen. »Die Kutsche ist losgefahren. Wohin eigentlich?«, sagte sie.
»Zum Abendessen natürlich. Ich bin schließlich Ihr Leibwächter, oder etwa nicht? Es ist meine Pflicht, für Ihr Wohlergehen zu sorgen.«
Lucy schnüffelte. Ein Potpourri köstlicher Düfte lag in der Luft. Sie ließ versehentlich einen hingerissenen Seufzer hören. »Was haben Sie jetzt schon wieder Hinterhältiges angestellt, Mr. Claremont?«
»Wenn wir schon gezwungen sind, Lady Cavendish unserer charmanten Gesellschaft zu berauben, dachte ich, wir könnten unser eigenes kleines Souper einnehmen.«
Er öffnete nach und nach die Päckchen, die neben ihm auf dem Polster lagen. Mit jeder neuen Köstlichkeit, die zum Vorschein kam, lief Lucy das Wasser im Mund zusammen. Bratäpfel, ein ganzer Ring Würstchen, mürbe Banbury-Kuchen, Sauerteigbrötchen, ein Krug Ale und eine Bonbonkollektion, die ihr vor Sehnsucht die Kehle eng werden ließ.
»Oh, du meine Güte!«, flüsterte sie. »Ist das großartig!«
»Ist nicht so, dass das Flussufer so gar keinen Charme besäße. Für den König der Bettler bringen sie hier immer noch ein Festmahl zusammen …«, er zog mit schwungvoller Geste ein kleines Sträußchen süßen Lavendel aus der Westentasche, »… und für seine Dame ein paar Blumen.«
Seine gute Laune schmolz zu etwas Gefährlicherem dahin, während er sich vorbeugte und Lucy zart die Lavendelzweige hinters Ohr steckte. Lucy erschauderte. Er tat es schon wieder. Nahm ihr die Luft, ließ die Karosse zusammenschrumpfen, bis ihrer beider Knie sich berührten und ihr Atem sich mischte. Närrisch, wie als Einladung, machte sie die Augen zu.
»Ich sollte das wirklich nicht tun«, murmelte sie.
»Unsinn!«
Die schroffe
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