Verführt: Roman (German Edition)
als all die Jahrzehnte zuvor und nur, um postwendend auf der anderen Seite herunterzufallen und albern quietschend im Schlamm liegen zu bleiben. Die Diener waren auch keine Hilfe. Sie hingen hinten auf der Kutsche herum und stritten sich lauthals über den Refrain von »Banbury-Dirnchen, süß wie ein Birnchen«.
Gerard war gezwungen, Lucys Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als sie Fenn endlich auf dem Bock mit seinem eigenen Gürtel festgeschnallt hatten, waren sie beide durchweicht bis auf die Haut und vor lauter Lachen ganz schlapp.
Lucy suchte zitternd in der Kutsche Schutz, während Gerard sie durch die menschenleeren Gassen kutschierte. Er musste nur ein einziges Mal Halt machen, weil die Diener der fraglichen Textstelle wegen ins Raufen geraten waren. Er setzte sich zwischen die beiden und brachte sie zu einer gewissen Harmonie, wenn schon nicht zu wirklichem Gesang. Der Text des Liedchens war glücklicherweise dermaßen ordinär, dass Lucy kein Wort verstand, aber sie erwischte sich dabei, wie sie die eingängige Melodie mitsummte, während sie auf Ionas kopfsteingepflasterte Auffahrt einbogen. Mr. Claremonts voller Bariton machte die Kälte erträglicher. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber sie gewöhnte sich langsam an seine beruhigend breiten Schultern. Seine unerschütterliche Präsenz gab ihr ungewohnte Wärme.
Hätte sie etwas Derartiges schon einmal erlebt, sie hätte es als Glück wieder erkannt. Aber so, wie es nun einmal war, wusste Lucy nur, dass ihr Magen voll war, ihre Zehen im Takt wippten und sie sich darauf freute, morgens aufzustehen – zum ersten Mal, seit sie denken konnte.
Die Karosse blieb stehen. Die ausgelassenen Stimmen auf dem Kutschbock fielen in dumpfes Schweigen. Lucys Zehen hielten inne. Eine böse Ahnung gab ihr einen schlagartigen Dämpfer. Sie rieb ein Guckloch ins beschlagene Fenster der Kutsche. Jedes vorhanglose Fenster des Herrenhauses erstrahlte in hellstem Licht.
11
Als aus dem schattigen Inneren der Kutsche Lucys bleiches Gesicht auftauchte, hätte Gerard fast aufgeschrien, so schwer traf ihn der Verlust. Die warmherzige, bezaubernde Frau, die ihm bei ihrem improvisierten Abendessen gegenübergesessen hatte, war verschwunden – zurück unter eine undurchdringliche Schicht aus Eis. Weißer als Schnee war sie geworden. Die Haut so durchscheinend, dass er an ihren Schläfen das zarte Netz der Adern erahnte. Sie stieg aus der Kutsche und übersah geflissentlich seine ausgestreckte Hand, als würde die ihre bei einer Berührung zerspringen.
Ernüchtert vom unheilvollen Licht, das auf den Rasen fiel, nahmen die Diener Fenns taumelnde Gestalt in die Mitte und flohen mit ihm zum Hintereingang. Es wäre das Beste gewesen, auch Gerard hätte irgendeine Entschuldigung gemurmelt und sich ins Pförtnerhaus zurückgezogen, doch er konnte Lucy mit den wütend funkelnden Lichtern nicht allein lassen. Also eskortierte er sie zur Tür, die Finger knapp unter ihrem Ellenbogen, falls sie doch noch ins Wanken geriet.
Smythe und der Admiral erwarteten sie bereits. Smythe stand am Fenster Wache, Morgenmantel und Nachtmütze so faltenfrei, dass Gerard sich fragte, ob der Butler wohl wie ein Pferd im Stehen schlief. Der Admiral prangte im königsblauen Hausmantel, das Haar eine weiß leuchtende Krone aus Frost. Der Gehstock trommelte einen zornigen Takt aufs Parkett, während er auf und ab marschierte.
Gerard wusste, dass er seine Anstellung aufs Spiel setzte, doch er war nicht sicher, ob er das verstohlene Intermezzo eingestehen konnte, nicht einmal, wenn das zu seiner sofortigen Entlassung führte. Lucys plätscherndes Lachen gehört zu haben, war jeden Preis wert.
Mit gesenktem Kopf wie eine entthronte junge Königin, die ihren Hals der Guillotine darbot, trat Lucy, die immer noch Gerards Gehrock um die schmalen Schultern trug, ihrem Vater entgegen.
»Nun, Lucinda, Liebling«, dröhnte der Admiral, und die Tücke troff aus jeder Silbe. »Wie überaus erfreulich, dass du dich dazu entschlossen hast, uns Gesellschaft zu leisten. Du kannst dir sicherlich meine Besorgnis vorstellen, als ich, nachdem ich mich hinreichend erholt hatte, bei Lady Cavendish eintraf und feststellen musste, dass du nie dort angekommen warst. Ich war völlig außer mir vor Sorge.«
Lucy holte Luft und wollte etwas sagen. Doch Gerard kam ihr zuvor, blinzelte gutmütig hinter seinen Augengläsern und sagte: »Es hat einen Unfall gegeben, Sir. Genau genommen sogar zwei -«
»Still, Mr. Claremont!« Lucys
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