Verführt: Roman (German Edition)
doch ständig zur ausladenden alten Eiche, die als sturmerprobter Wachposten unter Lucys Fenster stand. Er pflegte die Schulter an den grauen Stamm zu lehnen, stellte den Kragen gegen den Wind hoch, der vom Fluss herauffegte, und suchte die verhängten Fenster nach einem Vorhangrascheln ab oder aufblitzendem Weiß.
Lucy kuschelte sich in die samtenen Kissen auf der Fensterbank und steckte die eisigen Füße unter einen Quilt. Sie lugte durch den Spalt zwischen der Spitzengardine und dem Samtvorhang und beobachtete ihren Leibwächter, der seinerseits ihr Fenster beobachtete. Sie hätte nicht genau sagen können, seit wann seine Anwesenheit sie nicht mehr störte, sondern tröstete. Sie wusste nur, dass sie sich sicher fühlte, wann immer sie aus ihrem warmen Bett kletterte und ihn dort stehen sah, vor jedem Unheil beschützt vom glühenden Glücksbringer seiner Zigarre.
Der Wind zerwühlte sein Haar und zerrte an seinem Gehrock. Lucy zitterte vor Mitgefühl. Als er die Hände tief in die Taschen grub und kehrtmachte, um zur Küche zu schlendern, presste Lucy die Handflächen ans kalte Glas und flüsterte: »Guten Morgen, Mr. Claremont.«
Fünf zermürbende Tage waren seit Lucys Verbannung aus der Gesellschaft vergangen, als Gerard die Bibliothek betrat und den großen Raum verlassen vorfand. Er ergriff den seltenen unbeobachteten Augenblick beim Schopf, ließ sich im Stuhl des Admirals nieder und blätterte einen Stapel vergilbter Logbücher durch. Als Smythe unter der Tür erschien, schoss er schuldbewusst hoch.
Er schob die Logbücher unter ein Bündel parfümierter Briefe aus der Hand einer verheirateten Gräfin, die einst geglaubt hatte, sich in den Admiral verliebt zu haben, und sagte: »Wenn Sie es schaffen, dabei noch Rauch zu entwickeln, könnten wir Ihnen einen Bühnenauftritt verschaffen.«
»Ich habe den Zirkus immer gemocht, Sir. Die Elefanten, wissen Sie.« Smythe stand reglos da und summte tonlos vor sich hin.
Versessen darauf weiterzusuchen, bevor sein Arbeitgeber eintrudelte, nahm Gerard die rapide abnehmenden Geduldsreserven zusammen und fragte freundlich: »Kann ich Ihnen helfen, Smythe?«
Der Butler nahm Haltung an und schlug die Hacken zusammen. »Ich bin gekommen, Ihnen mitzuteilen, dass der Admiral den Morgen über außer Haus ist.«
»Den Morgen über?«, echote Gerard argwöhnisch. »Den ganzen Vormittag?«
»Den ganzen Vormittag, Sir. Wir sollen mit dem Lunch nicht auf ihn warten.«
Gerard beäugte Smythe misstrauisch. Warum machte sich der Butler solche Mühe, ihn von der ausgedehnten Abwesenheit des Admirals in Kenntnis zu setzen? Sollte das eine Falle sein? Würde der Admiral mit »Aha!«-Geschrei aus dem Kamin springen, um ihn auf frischer Tat zu ertappen? Dass Smythe angelegentlich die geschnitzten Türen aus Teakholz hinter sich schloss und ihn im diesigen Licht des Snow’schen Heiligtums allein ließ, befeuerte seine düsteren Fantasien nur zusätzlich. Der charakteristische Duft der Pfeife des Admirals hing in der Luft.
Gerard strich sich das frisch rasierte Kinn und schlich herum wie die Katze, die man die Sahne bewachen ließ – viel zu skeptisch, um an eine glückliche Fügung zu glauben. Der makellose Schreibtisch des Admirals zog ihn magisch an, das polierte Messing des Stundenglases winkte ihn aufreizend heran. Mit seinen dunklen Fächern, deren Geheimnisse enthüllt werden wollten, türmte sich der Sekretär vor ihm auf. Er würde vielleicht nie mehr eine Chance wie diese haben.
Er zog seine Stiefel aus, öffnete sachte die Bibliothekstüren und huschte durchs verlassene Foyer und die geschwungene Treppe hinauf zum oberen Stockwerk.
Nur eine Winzigkeit von Lucys Tür entfernt, hielten seine Fingerknöchel inne. Langsam sank die Hand auf den Türknauf aus Messing. Warum ihr eine Gelegenheit geben, ihn abzuweisen? Außerdem hatte er sich längst eine fadenscheinige Geschichte zusammengestrickt, dass eine verdächtige Gestalt drunten vor ihrem Fenster herumlungerte. Dass er selbst diese verdächtige Gestalt war, brauchte er ihr schließlich nicht zu verraten.
Er drehte den Knauf und stellte sich taktvoll, wenn auch zähneknirschend darauf ein, sich zurückzuziehen, falls er Lucy in ein verführerisches Negligé gewandet antraf. Doch als die Tür sich wie von selbst öffnete und ihm Einlass in das verlassene Zimmer gewährte, hätte er sich nicht mehr abwenden können, selbst wenn ihm jemand eine Pistole an die Schläfe gehalten hätte.
Mit schweren
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