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Verführt: Roman (German Edition)

Verführt: Roman (German Edition)

Titel: Verführt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
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Stolz zu empfinden. Doch sie fühlte sich nur seltsam leer, ganz als hätten die Stunden, die sie weinend in ihrem Schlafzimmer verbracht hatte, die kostbaren Kindheitserinnerungen fortgespült und ihr Herz bloßgelegt.
    Wenigstens einen Anflug von Gefühl wollte sie wiederhaben, also schaute sie durch die Sehschlitze der seidenen Augenmaske zu ihrem Vater auf. Dessen eigene Maske aus feinem Goldgewebe war bloße Formalität, passend zu den frisch polierten Orden, die seine Brust panzerten. Unter all den militärischen Größen, die sich hier versammelt hatten, gab es keinen, der ihn nicht erkannt hätte. In Galauniform mit Fransenepauletten und glänzenden Stiefeln verkörperte Lucien Snow all die Erhabenheit und Romantik der Royal Navy. Lucy durfte sich geehrt fühlen, dass Vater sich heute Abend auf sie stützte und nicht auf seinen Gehstock.
    Seine imposante Mähne schimmerte im Schein der Kronleuchter wie Raureif. Einen flüchtigen Moment – als er das Haupt senkte, um für die Huldigung zu danken, die man ihm zollte – drückte die alte Bewunderung Lucy wieder das Herz ab. Und ihr Vater war erneut der schönste Mann der Welt.
    Sie kam sich vor, als sei sie geschrumpft, nicht an seinem Ellenbogen untergehakt, sondern in die gestärkten Frackzipfel eingekrallt, an denen sie in wortlosem Flehen um seine Aufmerksamkeit zerrte.
    Christus, Smythe! Warum ist sie noch nicht im Bett? Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es ein anhänglicher Fratz.
    Unwillkürlich gruben sich Lucys Fingernägel in den Arm ihres Vaters. Er schaute sie missbilligend an, entwand ihr den Ärmel und strich unsichtbare Fältchen glatt. Als ihr Gastgeber und dessen Frau sich näherten, setzte er schnell ein joviales Lächeln auf.
    Lord und Lady Howells warmherziger Willkommensgruß konnte Lucys Frösteln nicht vertreiben. Ein leeres, kaltes Loch klaffte da, wo einst ihr Herz gewesen war, bis sie es aus reiner Dummheit Gerard Claremont geschenkt hatte. Was er wohl von ihr dachte nach jenem lachhaften Geständnis? Dass sie ein leichtlebiges Flittchen war? Oder ein liebeskrankes Kind? Weil sie fürchtete, in den haselnussbraunen Tiefen seiner Augen Belustigung zu entdecken, Gönnerhaftigkeit oder – noch schlimmer – Mitleid, war sie geflissentlich seinem Blick ausgewichen, als er ihnen gerade eben in die Kutsche geholfen hatte.
    »Lucy, Liebes, Sie sind ja kalt wie Eis!«, rief Lady Howard aus und rieb Lucys Hände.
    Lady Howards Gesicht war die zerknitterte Version von Sylvies. Mit Konturen, die die Zeit hatte verschwimmen lassen wie bei einer Pappmachémaske, die man im Regen hatte liegen lassen.
    Das strahlende Blau ihrer Augen trübte sich, als Lucy kühl die Hände wegzog. Aus Angst, unter dem Mitgefühl dieser Frau zusammenzubrechen. »Vergeben Sie mir, aber draußen ist es ziemlich kalt.«
    Als Lady Howell die Abfuhr würdevoll hinnahm und sich ihrerseits entschuldigte, erschien es Lucy drinnen sogar noch kälter als draußen. Die stuckverzierten Wände des Ballsaals waren mit weißem Chiffon drapiert. An den Scheiben der zimmerhohen Terrassentüren glitzerten echte Eisblumen. Die marmorgefassten Kamine an beiden Enden des lang gestreckten Saals gaben keine rechte Wärme her, und viele der Gäste hatten, passend zum Motto des Balls, Mäntel und Umhänge anbehalten, was den Maskeradenflair noch unterstrich.
    An goldenen Schnüren hingen kleine Kristallsternchen vom Deckengewölbe und ahmten strahlend weiße Schneeflocken nach. Die Lichtreflexionen schmerzten Lucys Augen, und sie fragte sich, wie man nur auf die Idee kommen konnte, drinnen den Winter nachzustellen, wenn draußen schon die ganze Welt in seinem frostigen Griff erstarrte.
    Lord Howell und ihr Vater entfernten sich, um über Napoleons skandalöse Selbsternennung zum Ersten Konsul auf Lebenszeit zu debattieren und ließen Lucy allein auf der Treppe stehen. Zu den Klängen von »Wie Marionetten an den unsichtbaren Fäden einer Quadrille« wirbelten maskierte Paare über den venezianischen Mosaikboden.
    Als Lucy Sylvie entdeckte, die sich mit ihrem kleinen Bruder Gilligan auf der Hüfte einen Weg durch die Tanzenden bahnte, entschlüpfte ihr ein Seufzer des Erschreckens. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte Sylvie noch nicht gelernt, wie man höflich einen Korb akzeptierte.
    Die Howells vertraten die ungewöhnliche Ansicht, dass Kinder nicht nur zu hören und zu sehen sein sollten, sondern auch nach Strich und Faden verwöhnt gehörten. Dem gemütlichen Gilligan hatten

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