Verführt: Roman (German Edition)
sie ein mittelalterliches Mönchsgewand mit einem Gürtel aus Hanfseil angezogen. Einer seiner älteren Brüder hatte ihm dazu eine zerrupfte Tonsur aus Pferdehaar ums kahle Haupt geklebt. Als das riesenhafte Baby, von seiner Schwester unbemerkt, einem Lakaien eine Faust voller gekochter Garnelen vom Tablett grapschte und sie mit einem Happen verschlang, huschte gegen ihren Willen ein Lächeln über Lucys Lippen.
Doch Sylvies erste Worte wischten ihre Belustigung fort. »Da bist du ja! Ich habe mich schon gefragt, ob du überhaupt noch kommst! Und wo ist dein hübscher Mr. Claremont?«
Lucys Magen zog sich peinlich berührt zusammen. Aus Angst, in Tränen auszubrechen und einen öffentlichen Skandal zu produzieren, befreite sie sich schnell aus Sylvies nach Pfefferminze duftender Umarmung. »Er ist nicht mein Mr. Claremont. Ich nehme an, er ist bei den anderen Bediensteten, wo er hingehört. Es wäre auch schwerlich passend, wenn er hinter den Topfpalmen herumlungerte und die Gäste deiner Mutter verschreckte.«
Sylvie schob sich Gilligans beachtliches Gewicht auf die andere Hüfte, wo er emsig fortfuhr, ihr rosafarbene Federn vom Kostüm zu zupfen. »Aber er sollte doch auf dich aufpassen?«
Sylvies unschuldige Frage setzte eine wahre Bilderflut frei: Gerard, wie er sie an seine warme Brust presste, durch den eisigen Regen trug, ihr eine zerschlissene Decke um die zitternden Beine legte. Gerard, der seine Lippen auf die Strieme an ihrem Hals presste, als ob sein Kuss heilende Kräfte hätte.
»Champagner, die Damen?« Die Stimme des Lakaien riss Lucy aus ihrer gefährlichen Träumerei.
»Jetzt noch nicht, David«, antwortete Sylvie, die Lucys Abneigung gegen Alkohol kannte. »Etwas später vielleicht, wenn -«
»Sehr gerne. Herzlichen Dank«, sagte Lucy. Sylvie starrte sie fassungslos an, und selbst Gilligan wirkte verdutzt, als sich Lucy ein Glas vom Tablett nahm und es in einem Zug leerte.
Das säuerliche Geschäum kitzelte in der Nase. Anheimelnde Wärme durchströmte ihren Körper und schaffte es beinahe, das quälende Verlangen zu löschen.
»Weißt du, Sylvie, ich brauche keinen Mr. Claremont zu meinem Schutz«, sagte sie nun strahlend und stellte das Glas aufs Tablett zurück. »Weil mich heute Abend mein Vater beschützt. Und wenn wir zusammen sind, brauchen wir sonst niemanden.«
Sylvie schaute ihrer Freundin hinterher, wie sie sich kühn den Weg über die Tanzfläche bahnte und auf die uniformierten Herren zuging, die förmlich an den Lippen des Admirals hingen. Es war schlicht nicht möglich, die Verärgerung im Gesicht des Admirals zu übersehen, als plötzlich seine Tochter an seinem Ärmel zupfte. Aber Lucy wich und wankte nicht, bis er ihr notgedrungen galant den Arm bieten und sie zum Tanz führen musste, wollte er vor seinen ergebenen Bewunderern nicht als elender Rüpel dastehen.
Sylvie pulte Gilligan geistesabwesend eine durchweichte Feder von der Zunge und fragte sich, ob es der ungewohnte Champagner war oder echte Tränen, die Lucys Augen so feucht glänzen ließen, als sie sich in die Arme des Admirals schmiegte.
Gerard widerstand der Versuchung, mit der Faust gegen das vereiste Glas zu schlagen. Lucinda Snow war wieder da, wo sie hingehörte. In Papas Armen.
Er wusste es besser, und trotzdem erwischte er sich dabei, wie er dem Zauber der beiden verfiel. Der humpelnde Schritt des Admirals verlieh seiner majestätischen Haltung eine tragische Note. In seiner makellosen Uniform mit den Ordensspangen auf der gewölbten Brust erinnerte er an einen in die Jahre gekommenen König, der von einem noblen Kreuzzug zurückgekehrt war. Einst hatte Gerard solche Männer verehrt. Damals hätte er alles dafür gegeben, zu ihnen zu gehören.
Als sei sie mit derselben naiven Sehnsucht geschlagen, korrigierte Lucy sanft einen schief sitzenden Orden.
Doch Gerards Illusionen über die Royal Navy zerstoben gnädigerweise gleich wieder, als Lucien Snow – unter dem fadenscheinigen Vorwand, ins Stolpern geraten zu sein – brüsk seine Tochter wegstieß. Er ließ Lucy mitten auf der Tanzfläche stehen, rauschte aus dem Ballsaal und machte nur einmal Halt, um sich denkbar kurz von Lord und Lady Howell zu verabschieden. Lucys trotzig erhobenes Kinn reichte nicht aus, den Schmerz zu kaschieren, den der Vater ihr zufügte, als er aus ihrer Gesellschaft floh.
Gerard war versucht, dem Admiral zu folgen. Aber er war lange genug auf Iona gewesen, um zu wissen, wohin der alte Bastard sich
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