Verführt von einer Lady
wusste nicht, warum sie so lange gebraucht hatte, das zu erkennen. All die Jahre, in denen sie gedacht hatte, dass er sie schlicht ignorierte …
Ach, du lieber Gott.
„Lady Amelia“, sagte er und neigte den Kopf ein wenig, offenbar alles, was sie ihm an Verbeugung wert war, „würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie zum nächsten Tanz führen zu dürfen?“
Elizabeth und Grace drehten sich zu ihr um, beide mit einem heiteren Lächeln der Erwartung. Auch sie hatten diese Szene schon mehrfach durchgespielt, sie alle. Und sie alle wussten, wie sie sich entwickeln würde.
Vor allem Amelia.
„Nein“, sagte sie, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
Er blinzelte. „Nein?“
„Nein, danke, hätte ich wohl sagen sollen.“ Sie lächelte freundlich, weil sie die Höflichkeit immer gern wahrte.
Fassungslos sah er sie an. „Sie möchten nicht tanzen?“
„Heute Abend nicht, nein.“ Amelia warf ihrer Schwester und Grace einen verstohlenen Blick zu. Die beiden jungen Frauen wirkten völlig überrascht.
Amelia hingegen fühlte sich einfach herrlich .
Sie fühlte sich im Einklang mit sich selbst, was sie in seiner Anwesenheit sonst nie empfinden konnte. Oder in Vorbereitung auf seine Gegenwart. Oder danach.
Alles drehte sich immer nur um ihn . Wyndham dies und Wyndham das, und wie glücklich sie sich schätzen durfte, dass sie den attraktivsten Duke weit und breit an Land gezogen hatte, ohne einen Finger krumm machen zu müssen.
Das eine Mal, da sich ihr recht trockener Humor Bahn gebrochen und sie gesagt hatte: „Wenn ich keinen Finger krumm gemacht hätte, hätte ich ja meine Babyrassel verloren!“, war sie mit zwei verständnislosen Blicken und einem gemurmelten „Undankbares Ding!“ bedacht worden.
Das war Jacinda Lennox’ Mutter gewesen, drei Wochen bevor Jacinda mit Heiratsanträgen überschüttet worden war.
Und so hielt Amelia meist den Mund und tat, was man von ihr erwartete. Aber jetzt …
Nun, dies hier war nicht London, ihre Mutter sah gerade nicht her, und sie hatte es einfach so satt, wie er sie am langen Arm verhungern ließ. Wirklich, inzwischen hätte sie längst jemand anderen finden können. Sie hätte sich amüsieren können. Sie hätte einen Mann küssen können.
Na gut, das vielleicht nicht. Sie war kein Dummkopf, und ihr Ruf war ihr durchaus etwas wert. Aber sie hätte davon träumen können, etwas, was sie bisher garantiert noch nie getan hatte.
Und schließlich, weil sie keine Ahnung hatte, wann sie je wieder so wagemutig sein würde, lächelte sie ihren zukünftigen Ehemann an und sagte: „Aber tanzen Sie ruhig, wenn Sie möchten. Ich bin mir sicher, dass viele Damen hier gern Ihre Partnerin wären.“
„Aber ich möchte mit Ihnen tanzen“, stieß er hervor.
„Vielleicht ein andermal“, tröstete Amelia ihn. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Wiedersehen!“
Und damit ging sie fort.
Sie ging einfach fort.
Am liebsten hätte sie einen Freudensprung gemacht. Das tat sie auch. Aber erst nachdem sie um die Ecke gebogen war.
Thomas Cavendish hielt sich gern für einen vernünftigen Menschen, vor allem, da ihm seine erhabene Stellung als siebter Duke of Wyndham jede Menge unvernünftige Ansprüche gestattet hätte. Er hätte vollkommen überschnappen, sich von Kopf bis Fuß in Rosa hüllen, die Welt zum Dreieck erklären können – und der ton hätte sich immer noch vor ihm verneigt, Kratzfüße gemacht und an seinen Lippen gehangen.
Sein eigener Vater, der sechste Duke of Wyndham, war nicht vollkommen übergeschnappt, hatte sich weder von Kopf bis Fuß in Rosa gehüllt noch die Welt zum Dreieck erklärt, aber er war ganz gewiss ein höchst unvernünftiger Mensch gewesen. Aus diesem Grund war Thomas ziemlich stolz auf seine Ausgeglichenheit, seine Verlässlichkeit und – obwohl er diese Seite seiner Persönlichkeit nicht vielen offenbarte – seinen Sinn für das Absurde.
Und das hier war entschieden absurd.
Doch als sich die Neuigkeit von Lady Amelias Aufbruch herumzusprechen begann und sich ein Kopf nach dem anderen in seine Richtung wandte, musste Thomas erkennen, dass Belustigung und Zorn sehr nah beieinanderliegen konnten und nur durch einen schmalen Grat voneinander getrennt waren, nicht breiter als ein Messer.
Aber doppelt so scharf.
Lady Elizabeth sah ihn ziemlich entsetzt an, als könnte er sich jeden Augenblick in ein Ungeheuer verwandeln und irgendjemanden in Stücke reißen. Und Grace – zum Kuckuck mit dem frechen Ding – sah aus,
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