Verfuehrung
winkte er ihr huldvoll, stellte sie ein paar Besuchern als »unsere neue Sängerin vor« und drückte ihr dann die Notenblätter in die Hand.
»Ich bin tatsächlich inspiriert worden«, sagte er, »zu diesem Lied. Es erscheint mir nur passend, dass Sie vor Ihrem Auftritt im Teatro San Carlo hier gemeinsam mit meinem Kompositionsvermögen debütieren.«
Das war ein Schlag, tief in die Magengrube. Die meisten Lieder musste man einstudieren, ehe man sie öffentlich vortrug. Bei diesem Lied hatte sie keine Ahnung, wie gut oder schlecht sein Kompositionstalent überhaupt war. Wenn er nicht komponieren konnte, dann würden auch die besten Kadenzen das nicht überspielen. Vielleicht bei einem bereits verehrten Sänger, an dessen Können beim Publikum kein Zweifel bestand, aber nicht bei einer den Neapolitanern noch neuen Sängerin, die man für eine misslungene Arie verantwortlich machen würde. Sie blickte ihn an, doch der Herzog hatte wieder seinen Basiliskenblick aufgesetzt.
»Sie werden mir den Gefallen doch tun, oder?«
Sie wusste nicht, ob das eine Herausforderung, eine weitere Prüfung oder eine komplizierte Rache für das war, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, als sie ihn »bestrafte«. Einen Moment lang war sie versucht, ihm die Notenblätter an den Kopf zu werfen und außerhalb Neapels ihr Glück zu versuchen. Dann sah sie aus den Augenwinkeln zwei ihr sehr vertraute Gestalten den Salon betreten, und der Anblick wirkte wie ein Balken, der ihr den Rücken stärkte und ihr Denken befruchtete.
»Gerne«, gab sie zurück. »Ich habe schon immer davon geträumt, mit dem großen Caffarelli ein Duett zu singen, und nie damit gerechnet, dass Sie mir dergleichen schon vor meinem offiziellen Debüt ermöglichen werden! Euer Exzellenz sind zu gütig.«
Damit hatte sie ihn vor den umstehenden Zuhörern verpflichtet, auch Caffarelli aufzufordern, dieses Lied zu singen, mit ihr. Caffarelli würde nicht besser vorbereitet sein als sie, und wenn er aus diesem Lied nicht viel herausholen konnte, dann würde man ihr nicht allein die Schuld dafür geben. An dem Zusammenzucken des Herzogs erkannte sie, dass er begriff, was sie getan hatte und warum.
»Ich dachte eigentlich, dass Sie alleine …«
Sie warf einen Blick auf die Notenblätter, ohne sie wirklich zu sehen; die Geste war nur Schau.
»Ein so schönes Werk verdient nicht nur ein Küken wie mich, sondern eine ausgereifte Nachtigall«, sagte sie liebenswürdig. »Und gewiss würde es Ihrer Exzellenz nie in den Sinn kommen, den großen Caffarelli damit zu brüskieren, mir Ihr neues Meisterstück anzuvertrauen und es gleichzeitig ihm vorzuenthalten.«
»Sie überraschen mich immer wieder«, sagte der Herzog ausdruckslos. Inzwischen hatte der Herzog die beiden Menschen, die Calori erspäht hatte, auch gesehen. Er ging auf sie zu und küsste der Contessa die Hand.
»Donna Giulia, wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Ich wünschte, ich könnte bei Ihren Gästen das Gleiche behaupten«, entgegnete die Contessa und schaute am Herzog vorbei zu Calori, »doch natürlich ist es reizend, Ihnen wieder zu begegnen, aber leider finde ich Neapel in dieser Saison voller Abfall. Wirklich, man müsste den Einheimischen klarmachen, dass es mit dem Ruhm ihrer Stadt bald vorbei sein wird, wenn sie weiterhin darauf bestehen, alles aufzuheben, was weisere Menschen längst weggeworfen haben.«
Der Herzog wusste bestimmt nicht, was zwischen der Contessa und dem angeblichen Bellino vorgefallen war, aber er begriff sofort, auf wen die Bemerkung zielte. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. Unter anderen Umständen hätte die Stichelei Calori kaltgelassen, denn sie bewies, dass die Contessa noch immer nicht über die Verletzung ihrer Eitelkeit hinweg war. Doch schräg hinter Donna Giulia stand, als sei er der »cavaliere servente«, der akkreditierte Liebhaber der Contessa, Giacomo Casanova, und trug ein Lächeln auf den Lippen. Dass sein Lächeln auch bedeuten konnte, darüber glücklich zu sein, sie wiederzusehen, kam Calori gar nicht in den Sinn. Es war eine Sache, sich abstrakt vorzustellen, dass er inzwischen bei der nächsten Frau oder den nächsten Frauen gelandet war, und eine ganz andere, ihn in den Armen der Contessa wiederzufinden!
»Wenn ich als Neuankömmling eine Meinung äußern darf«, sagte Calori, ohne sich zurückhalten zu können, und kleidete die Klinge in ihren Worten in ein Futteral aus sanfter Höflichkeit, »so scheint mir, dass all der Abfall in Neapel das
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