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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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verspannt war, löste sich.
    »Hier«, sagte er. »Aber um richtig atmen und singen zu lernen, braucht man Jahre.«
    Es war ein seltsames Gefühl, einen fremden Menschen so nahe bei sich zu spüren. Seit sie gelernt hatte, sich selbst anzukleiden, hatte das selbst ihre Mutter nicht mehr bei ihr getan.
    »Wie viele Jahre?«
    »Warum willst du das wissen?«, fragte er erneut und ließ sie abrupt wieder los, ohne jedoch von ihr wegzutreten. Seine Stimme, diese hohe, volltönende Stimme, die mühelos das gesamte Haus füllen konnte, wenn er wirklich sang, drang weiterhin von ganz nahe an ihr Ohr, und sie spürte seine Körperwärme. Es war beunruhigend und aufregend zugleich.
    »Ich habe noch Jahre meiner Karriere vor mir, ehe ich zum Lehrer werden muss, wenn ich mir das überhaupt antue, und deine Mutter hat das Geld nicht, sich auch nur eine Stunde von mir leisten zu können, geschweige denn sieben Jahre gründlichen Unterricht, wie ich ihn hatte.«
    Warum er sie jetzt auf einmal duzte, glaubte sie zu erraten: Es war ein weiterer Versuch, sie auf die Position eines Kindes zu verweisen.
    »Ich werde keine sieben Jahre brauchen«, sagte sie störrisch. »Ich werde es schneller lernen.«
    Er lachte, und es waren die ersten Laute, die sie von ihm hörte, die nicht melodiös klangen, sondern abgehackt und harsch.
    »Du kannst doch noch nicht einmal Noten lesen.«
    »Geschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen«, entgegnete sie hastig, denn er hatte recht, aber sie dachte an die Komödiantin auf der Bühne in Venedig, die gewiss auch keine Noten hatte lesen können und doch stürmischen Beifall für ihre Darbietung geerntet hatte. »Ich will singen!«
    Verächtlich verzog er den Mund. »Dann sing Jahrmarktslieder, das stört keinen. Schon morgen wirst du lieber lernen wollen, wie man sich gelbe Schleifen ins Haar bindet. Es ist die Laune eines Kindes, dem langweilig ist, nicht mehr.«
    »War es das für Sie auch?«, fragte sie wütend zurück, ohne nachzudenken, und seine Hände mit den sehr großen, etwas zu langen Fingern legten sich blitzartig um ihre Kehle.
    »Mich haben meine Brüder und mein Vater in einen Badetrog gezerrt und festgehalten, während ein Schlächter, der normalerweise Schweine kastrierte, sein Werk tat«, stieß er hervor, »weil ich der beste Sänger im Kirchenchor war. Ich hatte Glück, überhaupt zu überleben, denn mit elf Jahren war ich schon fast zu alt für den Eingriff. Und danach habe ich jeden Tag meines Lebens gesungen, damit es nicht umsonst war!«
    Sie wollte sagen, dass es ihr leidtat, aber mit seinen Händen an ihrer Kehle konnte sie das nicht. Er schien sich auf einmal bewusst zu werden, was er gerade tat, denn er löste seinen Griff.Aber er war immer noch zornig und packte sie stattdessen an den Schultern, während es weiter aus ihm herausbrach.
    »Lernen, du hast überhaupt keine Ahnung, was das heißt, zu lernen! Wenn man am Conservatorio di Sant’Onofrio in Neapel studiert, dann gibt es nichts anderes. Morgens eine Stunde schwierige Passagen, eine Stunde Musikliteratur, eine Stunde singen vor Spiegeln; am Nachmittag eine Stunde Musiktheorie, eine Stunde Improvisation und eine weitere Stunde Literatur, dazwischen an- und absteigende Halbtonleitern, irrwitzige Triller, unendlich lang zu haltende Noten, um das notwendige Atmen zu entwickeln. Und die Strafen, wenn du nicht gut genug bist …«
    Plötzlich erfasste sie ein stechender Schmerz, der nichts mit ihrem Hals zu tun hatte, und sie krümmte sich. Er ließ sie los, und diesmal trat er zurück. Angiola drehte sich zu ihm um. Dabei spürte sie etwas Warmes zwischen ihren Beinen auf den Boden tropfen. Sie hatte nicht mehr in die Hose gemacht, seit sie ein Kleinkind gewesen war, und die Vorstellung, sich jetzt vor diesem Mann auf diese Weise zu demütigen, war unerträglich. Sie wollte auf ihr Zimmer rennen, und mit etwas Glück würde er nichts bemerken, wenn ihr ein würdevoller Abgang gelang.
    »Ich will singen lernen, weil es nichts in diesem Leben gibt, was schöner für mich ist als der Klang Ihrer Stimme«, sagte sie leise und zwang sich, langsam und mit hocherhobenem Kopf aus dem Raum zu schreiten. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, gestattete sie sich, zu rennen, nach oben unter das Dach, wo sie ihre Schlafstätte hatte, aus ihrem Kleid zu schlüpfen und nach dem Schaden zu sehen.
    Es war keine Pisse, die warm ihre Beine herunterrann. Es war Blut.
    »Oh, mein Gott«, hörte sie Appianino entsetzt

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