Verführung der Finsternis: Roman (German Edition)
Leute wären überrascht über die Freizügigkeit in einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Gemeinschaft. Ohne Männer, die Gespräche oder Handlungen zügelten, konnten Themen, die normalerweise tabu waren, ganz offen besprochen, belächelt oder ausführlich erklärt werden. Sabrina wünschte nur, diese spezielle Unterhaltung möge enden, bevor die Hitze, die ihr in die Wangen stieg, bemerkt wurde.
»Ist er es also?«, beharrte Jane. »Gut aussehend, meine ich?«
Ein Prickeln glitt über Sabrinas Haut und richtete ihre Härchen auf wie statisch aufgeladen. »Das könnte man schon sagen«, murmelte sie.
Irgendwo läutete eine Glocke. Oder war es das Dröhnen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren?
Ein Kissen traf sie mitten im Gesicht.
»Mist! Wir kommen zu spät! Das war der letzte Ruf.« Jane und Teresa stürmten aus dem Raum und ließen Sabrina mit dem Wunsch nach einem ordentlichen Eimer Eiswasser von Schwester Brigh allein.
Er versuchte, nicht nervös zu werden unter dem unbewegten Blick der alten Frau, was aber nicht leicht war in seiner derzeitigen Lage – flach auf dem Rücken liegend und nackt, mit nur ein paar dünnen Decken als einzigem Schutz zwischen ihm und der kräftigen Person, die sich wie ein Berg vor ihm erhob.
»Schwester Ainnir sagt, Sie könnten sich nicht erinnern, wie Sie – mit genügend Seewasser für eine ganze Armada in der Lunge – an unseren Strand gespült wurden.«
»Nein, Schwester. Ich erinnere mich an nichts, bevor ich gestern in diesem Zimmer hier erwachte.«
Etwas glomm in ihren Augen auf, und sie veränderte ein wenig ihre Haltung. Doch worauf sie reagierte, konnte er nicht sagen. Auf etwas, was er gesagt hatte? Oder nicht gesagt hatte? Wusste sie, wer er war? Wussten sie es alle und wollten es ihm nur nicht verraten?
»Nicht einmal an Ihren Namen?«, fragte sie.
Ärger flammte in ihm auf wie eine angesteckte Zündschnur.
»Ich sagte Ihnen doch schon, ich erinnere mich an nichts .«
Wieder leuchtete es in den Augen der Frau wissend auf, und er ballte die Hände zu Fäusten, während er gegen einen wachsenden Zorn ankämpfte, den er nicht verstand.
»Und dieses Brandzeichen an Ihrem Unterarm?«, fuhr sie fort, aalglatt und kühl wie Glas. »Das ist ein ungewöhnliches Symbol.«
Seine Hand glitt zu dem in seinen linken Arm gebrannten Zeichen, das eine von einem gebrochenen Pfeil durchbohrte Mondsichel darstellte.
»Können Sie sich erinnern, was es bedeutet?«, beharrte sie. »Warum Sie sich auf solch grausige Weise selbst gezeichnet haben sollten?«
Dachte sie etwa, er belöge sie? Dass er aus irgendeinem Grund den Verlust seiner Erinnerung nur vortäuschte? Er wünschte, es wäre so einfach. Sein Ärger wuchs, verkrampfte seine Muskeln und brachte ihm seine Umgebung noch schärfer zu Bewusstsein – die wenigen Zentimeter, die ihn und die Frau voneinander trennten, den Regen, der gegen das Fenster schlug, und die schwere, feuchte Luft. Seine Wahrnehmung erweiterte sich auf das Blut, das durch Arterien und Venen floss, auf seinen sich beschleunigenden Herzschlag, den Atem, der seine Lunge füllte. Und auf noch etwas anderes, das irgendwie ein Teil von ihm und andererseits auch kein Teil von ihm war. Eine nicht greifbare, ungute Präsenz, die in den verborgensten Winkeln seines Kopfes lauerte und Zugang und Kontrolle zu erlangen suchte.
»Ich weiß es nicht«, knurrte er. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Er wehrte sich noch heftiger, widersetzte sich der suchenden Empfindung und reduzierte den Zorn auf kontrollierbare Ebenen, obwohl es ihn einen scharfen Schmerz in seinen Schläfen kostete. Das und eine überwältigende Übelkeit.
Ein zufriedenes Lächeln vertiefte die Fältchen im Gesicht der Nonne, und sie nickte, als hätte sie einen Entschluss gefasst. »Na schön! Wir können Sie aber nicht länger den ›Mann im Krankenzimmer‹ nennen. Bis Sie sich an Ihren eigenen Namen erinnern, werden wir einen für Sie aussuchen. Wie wäre es mit …« Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger an die Lippen. »Wie gefiele Ihnen Daigh?«
Von ihrem plötzlichen Themenwechsel verblüfft, zog er fragend eine Braue hoch.
Wieder erschien ein weises, ja allwissendes Lächeln auf ihrem Gesicht, diesmal sogar mit einem Anflug von Humor. »Ich hatte einen jüngeren Bruder namens Daigh. Er hatte etwas von Ihrem dunklen Äußeren.« Ihr Lächeln verblasste, und ihr Gesicht nahm wieder seinen üblichen strengen Ausdruck an. »Wir können nur hoffen, dass Sie nicht so
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