Verführung der Schatten
habe.“
„Welchen Thron hast du denn verloren?“
Er atmete tief aus. „Rydstroms.“
Ihre Augen wurden groß. „Wie?“
Seine Stimme wurde heiser und sogar sein Akzent veränderte sich, als er murmelte: „Mein Fehler. Ganz allein meine Schuld.“
„Wie kann das denn deine Schuld sein?“
„Fehler. Wer die Burg beherrscht … “
„Was soll denn das bedeuten?“
„Sie sind alle tot .“
„Wer, Cadeon?“ Keine Antwort. „Gibt Rydstrom dir die Schuld für den Verlust seines Königreichs?“
„Das tut er … hat er immer schon. Das sollte er auch.“
Sie spürte Wut in sich aufsteigen. War es möglich, dass ihm sein älterer Bruder – der König – seit neunhundert Jahren das Leben zur Hölle machte? „Warum redest du überhaupt noch mit ihm? Warum wohnst du auf seinem Besitz? Warum bist du immer noch die eine Hälfte der Woede-Brüder?“
„Den König beschützen.“
„Ja, ja, aber das musst du doch nicht bis in alle Ewigkeit machen.“
„… wär viel einfacher, wenn ich ihn einfach hassen könnte.“
Ihre Wut verflog unter dem Gewicht des Mitgefühls, das sie für diesen Mann empfand. „Du willst ihn hassen?“
„Kann ich nicht.“
„Wieso nicht?“
„Er is mein Bruder. Wenn er geschlagen wird … dann fühl ich es auch. Seltsam.“ Er versuchte, mit den Schultern zu zucken, und biss die Zähne vor Schmerz zusammen, als seine neue Haut sich spannte. „Holly?“
„Ich bin hier.“
„Sehr stolz … heute Nacht … meine Frau ist mutig“, murmelte er. Nach und nach wurden seine Atemzüge immer tiefer.
Holly war in der Tat mutig gewesen. Sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen und Cadeon und sich selbst in Sicherheit gebracht. Was nicht bedeutete, dass sie den Wunsch verspürte, sich jemals noch einmal auf solche Art und Weise bewähren zu müssen. Dieses Abenteuer war doch verdammt knapp ausgegangen. Ihr Leben hätte jederzeit enden können …
Er schlief jetzt, seine breite Brust hob und senkte sich regelmäßig. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr Blick auf seine Hörner fiel.
Die Versuchung war einfach zu groß. Sie streckte die Hand aus und berührte eines vorsichtig. Es fühlte sich weich an. Ihre Finger glitten darüber hinweg.
Wann hatte sich ihre Skepsis über diesen Teil seiner Anatomie eigentlich in Faszination verwandelt? Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, als sie ihn betrachtete. Verlangen …
Nein! Kein Verlangen . Sie traute weder ihren Gefühlen noch ihren Gedanken.
Schließlich gelang es ihr, sich von ihm loszureißen, um zu duschen, aber als sie sauber und fertig fürs Bett war, fühlte sie sich immer noch hellwach. Also brachte sie erst einmal das Zimmer in Ordnung. Dann fuhr sie ihren Laptop hoch, um herauszufinden, wo sich der nächste Checkpoint befand.
Als sie online war, sah sie, dass Tim es auch noch war, obwohl es in Kalifornien schon Mitternacht sein musste. Sie war überrascht, wie sehr sie sich danach sehnte, mit ihm zu reden, einfach etwas ganz Normales zu tun. Ich brauche dringend eine Dosis Normalität.
Ob sie ihn so spät noch anrufen sollte? Während sie hin- und herüberlegte, dachte sie daran, was für ein Glück sie mit ihm hatte. Sie würde bestimmt niemals befürchten müssen, eine andere Frau im Hintergrund zu hören, oder aufgrund seiner undeutlichen Aussprache feststellen zu müssen, dass Tim betrunken war.
Diese Gewissheit spendete ihr Trost.
Holly liebte Sicherheit. Sie liebte es, ihr Leben nach einem vorhersagbaren, geregelten Stundenplan zu führen, auf der Grundlage ihres Unterrichts an der Universität. Allein schon an ihr altes Leben zu denken beruhigte sie jetzt.
Die einzige Gewissheit, die es in der Mythenwelt zu geben schien, war, dass nichts je gewiss war. Warum sollte jemand wie sie dieser chaotischen, gewalttätigen Welt angehören wollen? Noch viel weniger wollte sie sich darüber Sorgen machen müssen, wie ihr Kind wohl sein oder ob sie gleich wieder von Dämonen angegriffen werden würde.
Brauche – Normalität. Sie griff nach ihrem Handy und rief ihn an.
„Holly?“ Tim war sofort dran. „Ist irgendwas passiert? Ich habe gesehen, dass du noch auf bist, und in Memphis ist es zwei Uhr. Ist mit deiner Familie alles in Ordnung?“
„Ähm, ja, alles in Ordnung.“ Lügnerin. Lügnerin. „Hier läuft alles bestens. Wie geht’s dir auf der Tagung?“
„Es wäre besser, wenn du hier wärst.“
„Vielleicht komme ich das nächste Mal mit.“ Wie schwierig konnte so eine Tagung schon sein,
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