Verführung Der Unschuld
der Küche im Erdgeschoss in einen kleinen Raum im ersten Stock
führte, so dass man keine Tabletts über die Treppe hinauf und hinunter tragen musste. Giulia
betrat die einfache schmale Steintreppe des Personalaufgangs, sprang zwei Stufen auf einmal
nehmend hinauf und gelangte zum Flur des ersten Stocks. Während der Nacht und bis in den
frühen Vormittag hinein war eine indirekte Beleuchtung eingeschaltet, so dass das Haus
niemals vollkommen in Dunkelheit versank. Giulia dachte an ihren Vater. Dieser hätte das für
absolute Energieverschwendung gehalten, aber bei so reichen Leuten wie den Morenos spielte
es wohl keine Rolle, ob die Stromrechnung etwas höher ausfiel.
Giulia mochte dieses Schummerlicht. Als Kind hatte sie es nicht verstanden, dass ihr Vater
nur das Einschalten der notwendigsten Lampen gestattete. Sie fürchtete sich im Dunkeln, und
das hatte sich auch mit dem Älterwerden kaum geändert. Woher diese Angst resultierte,
wusste Giulia nicht. Vielleicht hatte sie zu viele unheimliche Geschichten gelesen. Auf jeden
Fall führte ab der Dämmerstunde jedes noch so leise Knacksen im Haus dazu, dass sie
zusammenzuckte. Umso bewusster genoss sie es, dass sie abends in ihrem Zimmer
unbeobachtet war, und niemand sie daran hinderte, die Nachttischlampe beim Einschlafen
anzulassen.
Der Raum mit dem Speisenaufzug lag direkt neben dem Personalaufgang. Giulia trat ein.
Ein blauer Küchentresen mit Schubladen und Spüle, darüber Hängeschränke, dazwischen die
Klappe des Aufzugs und ein einfacher Schrank waren die einzige Einrichtung. Vor dem
Fenster stand ein großer Wagen mit Putzzeug, daneben ein Servierwagen. Giulia schob die
Klappe des Speisenaufzugs nach oben, um das Tablett mit dem Geschirr und dem Frühstück
herauszunehmen und auf den Servierwagen zu stellen, der schon ein wenig antik war und
beunruhigend auf seinen hohen Rollen schwankte.
Nachdem sie ihn vorsichtig auf den Gang hinausgefahren hatte, schloss sie die Tür hinter
sich und schob den Wagen den langen Flur entlang bis zu den Schlafräumen der Morenos. Es
war das erste Mal, dass sie diesen Bereich betrat, und sie fühlte sich ein wenig wie ein
Eindringling, nachdem man ihr bei ihrem Arbeitsantritt als eine der ersten Grundregeln
eingeschärft hatte, dass niemand, absolut niemand außer Giovanni, der Butler, und Antonella,
die zweite Hausdame nach Concetta, den ersten Stock aufsuchen durfte. Beide schätzte Giulia
Anfang vierzig. Sie waren miteinander verheiratet und bewohnten zwei Räume im
Erdgeschoss des Gesindehauses, machten aber den Eindruck einer emotionslosen Zweckehe,
was Giulia in ihren Vorsätzen bestärkte, auf keinen Fall irgendjemanden zu heiraten, den sie
nicht, oder der sie nicht lieben würde. Die fast gleichgültige Ruhe und kühle Distanz des
Paares wirkte auf jeden anderen einschüchternd und abweisend. Daher waren die meisten
Angestellten froh, möglichst wenig mit Giovanni und Antonella zu tun zu haben. Den
Moreno-Brüdern begegneten beide mit einem beinahe als unterwürfig zu bezeichnenden
Respekt, als schuldeten sie ihnen für irgendetwas ewigen Dank.
Es war in dieser Hinsicht also etwas ganz Besonderes, nicht einfach eine Aufgabe oder
Pflicht, nein, es war eine wahre Ehre, dass Giulia die Räume der Piano Nobile, der besseren
ersten Etage, betreten und ihren Arbeitgebern persönlich das Frühstück bereiten durfte! Eine
Arbeit, die sonst Giovanni und Antonella erfüllten, die aber wegen eines Todesfalls in der
Verwandtschaft Urlaub genommen hatten und frühestens in zehn Tagen zurückkehren
würden.
An den ersten Türen ging Giulia schnell vorbei. Sie würde später, wenn sie putzen musste,
ausreichend Gelegenheit haben, die dahinter liegenden Räume zu inspizieren.
Auf alles hatte man Giulia gründlich vorbereitet – wie sie sich den Morenos gegenüber zu
benehmen hatte, wie sie sich zu kleiden und ihre Haare zu richten hatte, alle nötigen
Höflichkeitsformen den häufigen Gästen gegenüber, weil sie Giovanni öfter beim Bedienen
helfen musste – aber nicht darauf, dass es besondere Gründe dafür gab, dass den Angestellten
der Zutritt in diesen Bereich des Hauses strengstens verboten war, und Zuwiderhandeln die
fristlose Kündigung bedeutete.
Die anderen hatten sie zwar merkwürdig angeschaut, als Giulia von ihrer neuen Aufgabe
erzählte, und miteinander getuschelt, aber sie hatte dem keine besondere Bedeutung
beigemessen, sondern geglaubt, sie seien nur neidisch. Jetzt, als sie den Servierwagen
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