Verführung Der Unschuld
Strümpfe
und einfache flache Schuhe und zuletzt noch dieses alberne Häubchen auf ihren Haaren – das
war einfach grotesk! Nur gut, dass keine ihrer Freundinnen sie in dieser Verkleidung sah! Die
hätten sich kaputtgelacht! Sie fühlte sich darin ausgesprochen unwohl, wie uniformiert, oder
wie eine Statistin in einem dieser kitschigen Fernsehfilme, die in muffigen Schlössern
spielten, und in denen knicksende Dienstmädchen eine erbärmliche Nebenrolle einnahmen.
Giulia seufzte. Der letzte Satz fiel ihr wieder ein, den ihr Vater ihr zum Abschied ermahnend
mitgegeben hatte. »Giulia, mein Liebling, dies ist deine Chance auf ein selbstständiges
Arbeitsleben. Mach uns keine Schande und folge brav den Anweisungen von Onkel Bruno. Er
wird seine Beziehungen spielen lassen und für dich eine gute Anstellung finden, wo niemand
nach Zeugnissen oder abgeschlossener Lehre fragt – also streng dich an, damit diesmal nichts
mehr schiefgeht, und du uns keine Schande machst!«
Sie strich noch einmal die Schürze glatt, dann gab sie sich einen Ruck, klopfte, und als
niemand antwortete, drückte sie die Klinke herunter und trat ein. Ihre Besorgnis war
vollkommen unbegründet gewesen. Das Zimmer war leer, niemand war da.
Erleichtert schob sie den Wagen hinein, schloss die Tür hinter sich und sah sich neugierig
um. Seit sie hier zu arbeiten angefangen hatte, war sie den Gemelli kaum begegnet, und wenn,
hatten sie, wie auch von den anderen Angestellten, kaum Notiz von ihr genommen. Nur
einmal hatte Signor Lorenzo sie gefragt: »Sind wir uns nicht schon mal irgendwo begegnet?«
Und Giulia hatte geantwortet: »Ich habe auf Ihrer Geburtstagsparty bedient und Ihnen ein
Bier gebracht!« Sie hatte vermieden, ihn mit seinem Namen anzusprechen, denn ganz sicher
war sie sich immer noch nicht, welchen der beiden sie vor sich hatte.
Er antwortete nur: »Ach ja, richtig«, und ging weiter.
Es hätte sie daher im Augenblick besonders verlegen gemacht, einem der beiden in ihren
privatesten Räumen gegenüberzustehen.
Von dem quadratischen, sehr geräumigen Vorzimmer führten drei weitere Türen zu den
angrenzenden Räumen. Warum drei? Giulia runzelte die Stirn. Mamsell Concetta hatte nur
davon gesprochen, dass die Schlafzimmer der Brüder nebeneinanderliegen würden,
ausgehend von einem gemeinsamen Aufenthaltsraum, der vor allem zum Frühstücken benutzt
wurde. Wohin führte die dritte Tür? Die Badezimmer lagen am Gang.
Die Beleuchtung war dezent und gemütlich, obwohl draußen bereits die Sonne mit
blendender Kraft schien. Licht erhielt das Zimmer zum einen durch ein kleines Türmchen, das
mehr aus Glas als aus Mauerwerk bestand und die Zimmerdecke wie auch das niedrige
Dachgeschoss durchbrach. Zum anderen schien das Licht von einem überdachten und voll
verglasten Balkon herein, der die nach außen liegende Zimmerwand fast vollständig einnahm.
Außerdem brannten offensichtlich die ganze Nacht über die beiden handgefertigten
Eisenleuchten in Edelrostoptik, die links und rechts der Tür zum Flur an der Wand angebracht
waren und mit ihren kleinen ornamentalen Durchbrüchen ein Muster aus Licht und Schatten
zauberten.
Der Boden war mit toskanischen Fliesen aus Terrakotta ausgelegt. Giulia fröstelte bei dem
Gedanken, morgens barfuß über den kalten Boden zu laufen. Aber wahrscheinlich trugen die
Gemelli Hausschuhe, wohingegen sie zu Hause immer am liebsten mit nackten Füßen oder
nur in Socken herumgelaufen war. In der Mitte des Zimmers befand sich ein runder Tisch, der
Platz für drei bis vier Personen bot, aber nur über zwei Stühle mit gepolsterten Armlehnen
verfügte. Der in beige und dunkelrot gestreifte Stoff an Arm- und Rückenlehnen wölbte sich
straff gespannt über die Polster und war mit dicken Messingnieten befestigt. Die
dunkelbraune Tischplatte glänzte, als ob sie frisch lackiert worden wäre. Über ihr schwebte
beinahe drohend ein Eisenleuchter, der im Stil zu den beiden Wandleuchten passte. In jeder
Zimmerecke stand unauffällig eine rahmenlose voll verglaste Vitrine, die von einer in der
oberen Abschlussplatte integrierten Lampe ausgeleuchtet wurde. Bilder waren keine
aufgehängt.
Giulia hätte sich gerne genauer umgesehen, aber sie zwang sich, nicht länger zu trödeln,
sondern sorgfältig den Tisch zu decken. Sie würde ihre neue Aufgabe zuverlässig und zur
Zufriedenheit der Mamsell erfüllen.
Zuerst das Geschirr mit dem Blümchendekor und den Goldrändern, dann Servietten und
Besteck, zwei Kristallgläser und
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