Vergangene Schatten
sie an sich zu ziehen. Sie sah, dass er sein Holster geöffnet hatte, um die Pistole schneller ziehen zu können. Das beruhigte sie wieder. Er würde schon dafür sorgen, dass ihr nichts zustieß. »Ich habe mir gleich gedacht, dass das keine gute Idee ist.«
»Nein, ich ... ist schon okay.« Sie fühlte sich tatsächlich wieder besser. Das Schwindelgefühl ließ bereits nach. Sie atmete tief durch und rief sich in Erinnerung, dass das ihr Haus war. Es würde keinem verdammten Mörder gelingen, sie von hier zu vertreiben. »Dieses Haus betrachte ich seit zweiundzwanzig Jahren als mein Zuhause. Ich lasse es nicht zu, dass ein schlimmes Erlebnis das alles zunichte macht.«
»Ganz meine Curls, wie ich sie kenne«, sagte Matt lächelnd. »Eine Kämpferin durch und durch.«
Carly lehnte sich an ihn und blickte zu ihm auf; sie fürchtete, dass man ihr ihre Gefühle für ihn nur allzu deutlich ansah. »Ich liebe dich«, sagte sie. Bevor er etwas antworten konnte, fügte sie hinzu: »Aber jetzt sehen wir zu, dass wir hier fertig werden.«
Entschlossen schritt sie durch die Zimmer im Erdgeschoss und erinnerte sich dabei an jene Nacht, als sie blutend vor diesem Verbrecher flüchtete. Sie erinnerte sich an das Blitzen seines Messers und an den Klang seiner rauen Stimme, mit der er ihr du bist so gut wie tot nachgerufen hatte. All die Gefühle kamen wieder zurück - die Angst, der Schmerz, als er ihr das Messer in die Schulter stieß, und die Verzweiflung, als ihr klar wurde, dass sie die Tür nicht rechtzeitig erreichen würde. Doch sie hatte letztlich überlebt; sie hatte das Ungeheuer überlistet, und Matt war rechtzeitig zur Stelle gewesen. Und jetzt würde sie ihr Haus wieder in Besitz nehmen.
Mit hoch erhobenem Kopf ging sie die Treppe hinauf und durchquerte das gesamte erste Stockwerk des Hauses. Das Badezimmer war wieder sauber; nicht der kleinste Blutstropfen war mehr zu sehen. Dann ging sie in ihr Zimmer und suchte einige Kleidungsstücke heraus, die sie fein säuberlich in ihre Tasche legte. Schließlich stieg sie erleichtert wieder die Treppe hinunter und ging quer über den Flur und auf die Veranda hinaus.
Dort begannen ihre Knie plötzlich zu zittern, so als würden sie jeden Moment unter ihr nachgeben. Sie schaffte es noch bis zur Treppe, wo sie sich auf der obersten Stufe niederließ. Sie atmete tief durch und blickte auf die Wiese mit der riesigen Birke und den Eichen hinaus und dann zur Straße hinunter, wo Matts Streifenwagen stand. Die heiße Sonne brachte nach und nach die Kälte zum Verschwinden, die der Gang durch das Haus in ihr hinterlassen hatte.
»Was ist los?«, fragte Matt, der mit ihrer Tasche in der Hand hinter ihr stand. Er stellte sie nieder und setzte sich neben sie.
»Ich war ein bisschen außer Atem«, sagte sie und sah ihn lächelnd an.
»Wirklich?«, fragte er mit skeptischem Blick.
»Okay, ich habe weiche Knie bekommen«, gestand sie und verzog das Gesicht.
»Verstehe«, sagte er und zog zärtlich an einer ihrer Locken. »Trotzdem war es nicht schlecht, durch das Haus zu gehen, nicht wahr?«
Carly holte tief Luft und nickte. »Es ist mein Haus. Ich kann es mir doch nicht von diesem Monster verderben lassen.«
Matt nahm ihre Hand, an der die Schnittwunde fast verheilt war, und drückte sie an seine Lippen. Carly sah ihn lächelnd an. Sie wollte gerade etwas sagen, als Annie unter der Veranda hervorgelaufen kam. Sie hatte irgendetwas zwischen den Zähnen, einen annähernd runden schwarzen Gegenstand, der schwer genug sein musste, dass Annie ein wenig Mühe hatte, ihn zu tragen.
»Sieht aus wie eine Damenhandtasche«, sagte Matt ein wenig überrascht, als ihm der Hund ebenfalls auffiel.
»Wem die wohl gehört?«, sagte fcarly und stand auf - nicht zuletzt auch, um zu sehen, ob ihre Knie sie schon wieder trugen. Sie ging sicheren Schrittes die Treppe hinunter und wusste, dass es ihr beim nächsten Mal schon leichter fallen würde, das Haus zu betreten. Die Erinnerung an den Überfall würde immer da sein, aber es würde wieder ihr Haus sein - und wenn der Täter erst gefasst war, würde sie wieder hier leben können, und der Schrecken würde ein Ende haben.
»Annie, zeig mir das mal«, forderte sie die Hündin auf. Annie ließ den Riemen der Tasche los, als Carly danach griff. Es war eine billige Handtasche, nicht aus Leder, sondern aus Kunststoff. Sie fühlte sich kalt an und war schon ziemlich schmutzig, nachdem sie gewiss schon eine Zeit lang unter der Veranda gelegen hatte.
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