Vergangene Schatten
recht geschehen wäre, wenn er sich verirrt hätte.
»Hugo. Verdammt, schwing deinen pelzigen Hintern her zu mir. Wenn du glaubst, dass ich dich jetzt die ganze Nacht suche, dann hast du dich gründlich getäuscht.«
»Also, ich muss zwar ziemlich oft pinkeln, aber dafür rede ich nicht so ungehobelt mit meiner Katze«, sagte Sandra, als sie zu ihr aufschloss. »Na, da ist er ja.«
Carly blickte in die Richtung, in die Sandra zeigte, und sah Hugo ganz ruhig auf der Veranda sitzen. Carly seufzte erleichtert. Es wäre einfach zu viel gewesen, wenn sie jetzt auch noch Hugo verloren hätte. Er wirkte überhaupt nicht besorgt darüber, dass er sie verloren hatte, und widmete sich in aller Ruhe der Fellpflege. Neben schlafen und essen war das sein wichtigster Zeitvertreib. Für Katzen galt eben genauso wie für Menschen, dass man, wenn man weiß gekleidet war, sehr auf Sauberkeit achten musste.
»Komm schon«, forderte Carly ihn auf und ging die Treppe hinauf. Die Veranda verlief, von einem halben Dutzend schlanken Pfosten gestützt, über die gesamte Vorderseite des Hauses. Hugo streckte sich erst einmal ausgiebig, bevor er sich erhob, um sie zu begrüßen. Carly warf ihm einen finsteren Blick zu und ging an ihm vorüber. Hugo und Sandra folgten ihr, als sie die Schachtel auf das Korbsofa stellte, das auf der Veranda stand, so lange sie zurückdenken konnte, und die quietschende Verandatür öffnete. Sie bemühte sich, den Schlüssel in das altmodische Schloss der Eichentür zu bekommen. Hinter der kleinen Bleiglasscheibe, die in die Tür eingesetzt war, wirkte das Haus dunkel wie eine Höhle. Carly drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Der Geruch des Hauses strömte heraus und hüllte sie ein. Die Luft im Inneren war natürlich ein wenig muffig, nachdem das Haus wochenlang verschlossen gewesen war -und doch roch es genauso wie immer: alt, mit einem Schuss Zitronenpolitur, und ein ganz klein wenig modrig. Sie trat ein und runzelte sogleich die Stirn; sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Im nächsten Moment wusste sie, was es war; ihre Großmutter hatte in jedem Zimmer kleine Beutel mit Eisenkraut deponiert. Der Duft nach Eisenkraut war weg.
Ein Hauch von Nostalgie überkam sie; sie vermisste diese Duftnote. Sie vermisste ihre Großmutter. Sie sehnte sich nach der Zeit zurück, als sie als Kind in diesem Haus gelebt hatte.
»Also, wo ist jetzt die Toilette?«
Sandra stand so dicht hinter ihr, dass Carly ihren Atem im Nacken spürte. Hugo wiederum sauste zwischen ihren Beinen hindurch und verschwand schwanzwedelnd in der Dunkelheit. Draußen begann es nun stärker zu regnen. Aus dem Inneren des Hauses ertönte ein leises plop, plop. Manche Dinge änderten sich eben nie; das alte Blechdach war wieder einmal undicht.
Vergiss die nostalgischen Gefühle, sagte sich Carly. Die momentanen Umstände erforderten ihre ganze Aufmerksamkeit.
Nur um sicherzugehen, dass Matt ihr die Wahrheit gesagt hatte, drückte sie auf den Lichtschalter an der Tür. Nichts passierte.
»Hier lang«, sagte sie zu Sandra und wunderte sich selbst, dass ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern war, als sie über den dunklen Flur ging. Die Stille des Hauses schien es zu verlangen, dass man sich ebenfalls still verhielt. Es war ihr, als würde irgendwo im Haus etwas schlafen, das nicht gestört werden durfte, was natürlich absolut lächerlich war und ganz eindeutig daher kam, dass sie zu viel Fantasie hatte und außerdem zu viel Stephen King gelesen hatte. Sie schob das Gefühl beiseite und ging weiter, ließ aber die Haustür offen stehen. Natürlich nur, damit etwas Licht von draußen hereindringen konnte, wie sie sich sagte, und ganz sichei; nicht, um sich einen eventuellen Fluchtweg offen zu halten. Das Licht von draußen war zwar auch nur ganz schwach, aber immer noch besser als absolute Dunkelheit. Außerdem empfand sie das leise Rauschen des Regens als beruhigend, während der Luftzug von draußen etwas Erfrischendes hatte.
»Die Toilette ist hinter der Tür da«, sagte sie mit betont normaler Stimme. Zum Glück für Sandras Blase befand sich die besagte Tür noch innerhalb des schwachen Lichtkegels, der durch die Haustür hereindrang. Carly war nämlich überzeugt, dass ihre Freundin, die sich stets dicht hinter ihr gehalten hatte, keinen Schritt weiter gemacht hätte; nach der Toilettentür wurde es nämlich absolut dunkel.
»Schscht! Musst du unbedingt so laut sprechen?«
Die Atmosphäre des Hauses bewirkte
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