Vergangene Schatten
berührte, schloss sich eine Hand fleischig, warm und kräftig um ihr Handgelenk. Carly schrie, so laut sie konnte.
6
Carly schrie immer noch aus Leibeskräften, als sie ihre Hand losriss und herumwirbelte, um zu flüchten. Stattdessen wurde sie von einem heftigen Stoß zwischen die Schulterblätter gegen den Tisch geschleudert und prallte schmerzhaft an dessen scharfe Kante. Während sie vornübergebeugt dastand und sich die Hüfte hielt, suchte der Eindringling das Weite. Sie hörte ganz deutlich, wie er loslief und an ihr vorbeisauste. Dass es ein »Er« sein musste, schloss sie aus der Größe der Hand, die sie am Handgelenk gepackt hatte.
Der Mann lief mit donnernden Schritten auf die Küche zu, als ein weiterer Schrei in der Dunkelheit ertönte. Carly bekam kaum mit, dass sie selbst es war, die ihn hervorstieß, als sie erneut zu laufen begann. Ihr Herz pochte wie wild, als sie, immer noch schreiend, den Flur erreichte. Sandra, die noch auf der Toilette war, rief laut ihren Namen. Ohne zu antworten, rannte Carly auf die offene Haustür zu - und stieß erneut mit einem warmen Etwas zusammen, das sie an den Oberarmen packte, als sie zurückweichen wollte.
Der Schrei, den sie nun ausstieß, war wahrscheinlich noch am anderen Ende der Stadt zu hören. Halb wahnsinnig vor Angst versuchte sie verzweifelt, sich loszureißen.
»Carly! Herrgott, Carly, ich bin's!«
Matts Stimme. Matts Hände. Carly hörte auf, sich zu wehren. Ihre Knie wurden weich, und sie rang erschaudernd nach Luft. Er ließ sie nicht los; seine Finger gruben sich in ihre weichen Arme. Es war so dunkel, dass sie ihn nicht sehen konnte - ja, sie konnte überhaupt nichts sehen außer dem schwachen Lichtschein, der von der offenen Haustür hereindrang -, doch sie erkannte Matt augenblicklich an seiner Stimme. Diese Stimme war, wie ihr zu ihrer Bestürzung bewusst wurde, irgendwo in ihre Gehirnwindungen eingebrannt. Konnte es vielleicht sein, dass der Mann in der Küche auch Matt war? Nein. So sicher, wie sie wusste, dass es Matt war, der sie jetzt festhielt, genauso sicher wusste sie auch, dass er nicht der Mann war, der sie vorhin gepackt hatte.
»Ist alles in Ordnung? Was ist denn passiert?«
»Matt. O Gott, Matt.«
Sie zitterte, und es fiel ihr schwer, auch nur ein Wort herauszubringen. Er gab einen unverständlichen Laut von sich und zog sie an sich. Carly ließ sich gegen ihn sinken, dankbar für die Kraft und Sicherheit, die er ausstrahlte. Matt. Gott sei Dank war Matt hier. Er mochte ja in so ziemlich jeder Hinsicht ein niederträchtiger Schuft sein, aber er würde ihr bestimmt nicht wehtun, zumindest nicht körperlich. Ja, sie war sogar überzeugt, dass Matt alles in seiner Macht Stehende tun würde, um sie zu schützen.
»Was ist denn los?«, fragte er.
Carly holte tief Luft. »Es muss dieser Herumtreiber gewesen sein. Er war hier ... im Haus ... im Esszimmer. Er hat mich gepackt.« Sie schauderte, als sie wieder daran dachte. »Er ist zur Küche gelaufen.«
»Bleib hier«, sagte Matt mit Nachdruck in der Stimme. Er fasste sie an den Handgelenken und löste sich mit geradezu spielerischer Leichtigkeit von ihr, obwohl sie sich an ihn klammerte, als ginge es um Leben und Tod. Dann eilte er von ihr weg, ehe sie ihn aufhalten konnte - denn das hätte sie mit Sicherheit getan, wenn sie gekonnt hätte; allein hier in der Dunkelheit zu bleiben war nämlich so ziemlich das Letzte, was sie jetzt wollte.
»Matt...« Unter so gut wie allen anderen Umständen wäre es ihr ungeheuer peinlich gewesen, ihm so offen ihre Angst zu zeigen.
»Rühr dich nicht von der Stelle.« Im nächsten Augenblick war er weg. Sie wusste es deshalb, weil sie ihn festzuhalten versuchte, aber ins Leere griff. Er schaltete eine Taschenlampe ein, von der sie nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, und lief entschlossen zum Esszimmer hinüber. Sie sah ihm mit angehaltenem Atem nach, bis der Strahl der Lampe im Esszimmer verschwand.
Sie war wieder allein auf dem beängstigend dunklen Flur. Langsam atmete sie aus und blickte sich vorsichtig um.
»Carly! Carly, was ist denn los? Was ist passiert?«, rief Sandra von der Toilette, während sie mit laut polternden Schritten hin und her irrte. »Oh, ich sehe nichts! Ich finde den Türknauf nicht mehr! Carly, hörst du mich? Bist du da draußen? Carly!«
Ein Mann schrie auf. Fast gleichzeitig ertönte ein krachendes Geräusch, so als wäre ein ziemlich großer Gegenstand zu Boden gefallen und zerbrochen. Carly sprang vor
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