Vergangene Schatten
dessen Düfte den Raum erfüllten. Es gab Pfannkuchen mit Sirup, Eier, Speck und Kaffee. Normalerweise wäre ihr wohl das Wasser im Mund zusammengelaufen, doch an diesem Morgen war sie kein bisschen hungrig; zu sehr war sie auf die Aussicht konzentriert, Matt gegenüberzutreten.
Die Küche war wahrscheinlich bis auf den letzten Platz gefüllt, wie sie sogleich sah, als sie zögernd an der Türschwelle nach Matt Ausschau hielt. Das hatte durchaus sein Gutes, wie sie nach einem Augenblick des Überlegens fand. Wenn alle in der Küche waren, konnte sie umso leichter irgendwo im Haus mit ihm allein sein, um ihm in nicht allzu freundlichen Worten Lebewohl zu sagen.
Sandra stand mit dem Rücken zur Tür am Herd. Sie trug eine schwarze Hose und ein langes schwarzes T-Shirt und schien sich pudelwohl zu fühlen, während sie mit einem Löffel in einem dampfenden Topf rührte. Lissa, die ein ärmelloses hellgrünes Sommerkleid trug, beugte sich zu dem Mädchen neben ihr hinüber, das ihr so ähnlich sah, dass es sich wohl ebenfalls um eine von Matts Schwestern handeln musste. Im Gegensatz zu Lissa, deren langes Haar über eine Schulter herabfiel, hatte sie einen schwarzen Bubikopf. Sie saß mit einem angestrengten Gesichtsausdruck über einem Buch mit Textiiproben, das vor ihr auf dem Küchentisch ausgebreitet war. Neben ihr saß eine Frau, die ungefähr in Carlys Alter war. Sie trug eine ärmellose weiße Seidenbluse und hatte ihr blondes Haar sorgfältig hochgesteckt.
Die Frau hatte feine Gesichtszüge und war von beneidenswert schlanker Gestalt. Daneben saß ein Mann mit weißem Hemd und roter Krawatte, der ihr einigermaßen ähnlich sah, so dass man annehmen konnte, dass die beiden verwandt waren. Die restlichen Plätze am Tisch wurden von zwei von Matts Stellvertretern eingenommen - dem großen, stämmigen Antonio, der schon vergangene Nacht zugegen gewesen war, und einem viel jüngeren Mann mit rötlichem Bürstenhaarschnitt. Ein weiteres Mädchen - zweifellos die Älteste von Matts Schwestern - kam gerade vom Kühlschrank zurück, eine Tüte mit Orangensaft in der Hand. Sie trug ein knielanges türkisfarbenes Kleid.
In diesem Moment fiel Carly ein, dass heute Sonntag war -und soweit sie die Sonntage in Benton in Erinnerung hatte, bedeutete das, dass man zur Kirche ging. Alle außer Matts Stellvertretern schienen sich für den Kirchgang angezogen zu haben. Mit einem Hauch von schlechtem Gewissen erinnerte sie sich daran, dass auch für sie einst der Kirchgang am Sonntag absolute Pflicht war. Ihre Großmutter, die eine Stütze der First Baptist Church von Benton gewesen war, hätte ihr niemals gestattet, der Kirche fernzubleiben, es sei denn, sie war wirklich krank. Als sie schließlich auf das College kam, brach sie mit dem alten Brauch. In die Kirche kam sie nur noch zu Hochzeiten und Begräbnissen.
Sie war heute eine erwachsene Frau, rief sie sich in Erinnerung, als die unangenehmen Schuldgefühle aus der fernen Vergangenheit in ihr zum Vorschein kamen. Dass sie nach Benton zurückgekehrt war, bedeutete noch lange nicht, dass alles wieder so sein musste wie früher. Sie konnte heute tun und lassen, was ihr gefiel. Und wenn sie nicht in die Kirche gehen wollte, dann war das ihre Sache. Außerdem waren ihre Kleider noch nicht einmal ausgepackt, und überhaupt hatte sie jetzt andere Dinge zu erledigen.
Während sie sich weiter im Raum umblickte, musste sie feststellen, dass ihr erster Eindruck richtig gewesen war: Matt war tatsächlich nicht anwesend.
»Also, das war das beste Frühstück, das ich seit Jahren hatte«, sagte Antonio zu Sandra und steckte sich genüsslich noch ein Stück Pfannkuchen in den Mund.
»Damit ihr's wisst, so ein Kleid in Kaugummirosa trage ich ganz bestimmt nicht«, sagte das Mädchen mit dem Bubikopf angewidert. »Das Kleid, das ich anprobiert habe, war dunkelgrün.«
»Also, kaugummirosa würde ich es nicht nennen«, erwiderte die blonde Frau ein klein wenig gekränkt. »Und dunkelgrün passt besser für den Herbst als für den Sommer. Es ist das gleiche Kleid, nur in einem sommerlichen Farbton.«
»He, Dani, warum probierst du's nicht einfach mal? Vielleicht ist kaugummirosa genau deine Farbe«, warf Lissa lächelnd ein.
Dani - Carly erinnerte sich, dass sie Matts mittlere Schwester war - sah Lissa vorwurfsvoll an. »Du musst es genauso tragen.«
»Danke für das Frühstück, Miss Kaminski. Es war wirklich ausgezeichnet«, warf der zweite Sheriff-Stellvertreter ein.
»Sandra«,
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