Vergebung
gerade im Polizeipräsidium und versuchte, irgendwelche vernünftigen Auskünfte zu bekommen. Cortez hatte den Morgen damit verbracht, herumzutelefonieren und sich zusammenzureimen, was eigentlich passiert war. Blomkvist ging zwar nicht ans Telefon, aber dank einiger Quellen hatte Cortez sich doch ein relativ gutes Bild von den Geschehnissen der letzten Nacht machen können.
Hingegen war Erika Berger den ganzen Vormittag über völlig geistesabwesend gewesen. Es kam äußerst selten vor, dass sie die Tür zu ihrem Büro zumachte. Das geschah fast nur, wenn sie Besuch hatte oder intensiv über irgendein Problem nachdachte. An diesem Morgen hatte sie weder Besuch gehabt noch gearbeitet. Nachdem Cortez ein paarmal angeklopft hatte, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen, fand er sie im Stuhl am Fenster vor. In Gedanken versunken, starrte sie scheinbar teilnahmslos auf die Menschenmenge auf der Götgatan. Seinem Bericht hörte sie nur zerstreut zu.
Irgendwas stimmte hier nicht.
Die Türklingel riss ihn aus seinen Überlegungen. Als er aufmachte, stand Annika Giannini vor der Tür. Cortez hatte Mikael Blomkvists Schwester schon mehrmals getroffen, kannte sie aber nicht näher.
»Hallo, Annika«, sagte er. »Mikael ist heute nicht hier.«
»Ich weiß. Ich will ja auch Erika treffen.«
Erika Berger blickte auf und sammelte sich rasch, als Cortez Annika hereinließ.
»Hallo«, sagte sie. »Mikael ist heute nicht hier.«
Annika lächelte.
»Ich weiß. Ich bin hier wegen Björcks SiPo-Bericht. Micke hat mich gebeten, ihn mir anzusehen, weil ich Lisbeth Salander eventuell vertreten soll.«
Erika nickte. Sie stand auf und holte einen Ordner vom Schreibtisch.
Annika zögerte kurz und war schon fast auf dem Sprung, das Zimmer wieder zu verlassen. Dann überlegte sie es sich aber doch anders und nahm gegenüber von Erika Platz.
»Okay, und was ist mit dir los?«
»Ich werde bei Millennium aufhören. Aber ich habe es Mikael noch nicht erzählen können. Er war so beansprucht von dieser Salander-Geschichte, dass es einfach noch keine Gelegenheit gab, und ich kann es den anderen nicht sagen, bevor ich es zuerst ihm gesagt habe, und jetzt geht es mir einfach beschissen.«
Annika Giannini biss sich auf die Unterlippe.
»Und jetzt erzählst du es mir. Wo wirst du denn stattdessen arbeiten?«
»Ich werde Chefredakteurin bei der Svenska Morgon-Posten .«
»Hoppla. Na, wenn das so ist, wären doch wohl eher Glückwünsche angebracht als Heulen und Zähneklappern.«
»Aber auf diese Art wollte ich nicht bei Millennium aufhören. Mitten in so einem Riesenchaos. Das Angebot von der SMP kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und ich konnte einfach nicht Nein sagen. Ich meine, so eine Chance, so was kommt nie wieder. Ich habe das Angebot bekommen, kurz bevor Dag und Mia erschossen wurden, aber seitdem war hier so viel los, dass einfach nie die richtige Gelegenheit war … und jetzt hab ich ein fürchterlich schlechtes Gewissen.«
»Verstehe. Und du hast Angst, es Mikael zu sagen.«
»Ich hab es noch niemand gesagt. Ich dachte eigentlich, ich würde erst im Sommer zur SMP gehen, aber jetzt wollen sie, dass ich so schnell wie möglich anfange.«
Erika schien den Tränen nahe zu sein.
»Das hier ist praktisch meine letzte Woche bei Millennium . Nächste Woche bin ich verreist und dann … ich brauche ein, zwei Wochen Urlaub, um meine Batterien wieder aufzuladen. Aber am ersten Mai fange ich bei der SMP an.«
»Und was wäre passiert, wenn dich ein Auto überfahren hätte? Dann wären sie doch auch von einer Minute auf die andere ohne Chefredakteurin dagestanden.«
Erika sah auf.
»Ich bin aber nicht von einem Auto überfahren worden. Ich habe ihnen diese Sache mehrere Wochen bewusst verschwiegen.«
»Natürlich ist das eine dumme Situation, aber ich glaube, dass Micke, Christer und die anderen das schon verstehen werden. Allerdings finde ich, du solltest es ihnen jetzt gleich sagen.«
»Würd ich ja gerne, aber dein verdammter Bruder ist heute in Göteborg. Er schläft und geht nicht ans Telefon.«
»Ich weiß. Ich kenne wenige Leute, die sich so gut darum drücken können, ans Telefon zu gehen, wie Mikael. Aber hier geht es nicht um dich und Micke. Ich weiß, dass ihr seit zwanzig Jahren zusammenarbeitet, aber du musst auch an Christer und die anderen in der Redaktion denken.«
»Aber Mikael wird …«
»Micke wird erst mal total an die Decke gehen. Aber wenn er nicht damit klarkommt, dass du nach zwanzig Jahren auch mal
Weitere Kostenlose Bücher