Vergebung
über das Dokument, das man ihm vorgelegt hatte, als er am Morgen im Büro erschienen war. Zusammen mit Faste hatte er die vierzig Seiten mit Lisbeth Salanders Rechtfertigung durchgelesen. Eine ganze Weile hatten sie über das seltsame Dokument diskutiert, bis sie sich schließlich gezwungen sahen, Annika Giannini zu bitten, zu einem inoffiziellen Gespräch vorbeizukommen.
Sie setzten sich an einen kleinen Konferenztisch in Ekströms Dienstzimmer.
»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind«, begann Ekström. »Ich habe diese … hmm, Rechtfertigungsschrift gelesen, die Sie mir heute Morgen zugeschickt haben, und möchte dazu die eine oder andere Frage stellen.«
»Bitte«, sagte Annika Giannini hilfsbereit.
»Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass Kriminalinspektor Faste und ich beide zutiefst verblüfft sind.«
»Tatsächlich?«
»Ich versuche, Ihre Absichten zu verstehen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Diese Autobiografie oder wie auch immer man das hier nennen will - was bezwecken Sie damit?«
»Das dürfte doch auf der Hand liegen. Meine Mandantin will ihre Version der Ereignisse darlegen.«
Ekström lachte gutmütig. Mit einer wohlbekannten Geste strich er sich über seinen Kinnbart, eine Angewohnheit, die Annika aus irgendeinem Grund langsam auf die Nerven ging.
»Ja, aber Ihre Mandantin hatte mehrere Monate Zeit, um sich zu erklären. In sämtlichen Verhören, die Faste mit ihr zu führen versuchte, hat sie kein Wort gesagt.«
»Soweit ich weiß, gibt es kein Gesetz, das sie zwingen könnte, zu reden, wenn es Kriminalinspektor Faste gerade in den Kram passt.«
»Nein, aber ich meine … in zwei Tagen beginnt die Gerichtsverhandlung, und um fünf Minuten vor zwölf kommt sie mit diesen Unterlagen an. Ich spüre in dieser Angelegenheit eine gewisse Verantwortung, die außerhalb meiner Pflichten als Staatsanwalt liegt.«
»Ach ja?«
»Ich will mich auf keinen Fall auf eine Art ausdrücken, die Sie als beleidigend auffassen könnten. Das liegt nicht in meiner Absicht. In diesem Land haben wir eine Prozessordnung. Aber Frau Giannini, Sie sind Anwältin für Frauenrecht und haben noch nie einen Mandanten verteidigt, der ein Verbrechen begangen hat. Ich habe Lisbeth Salander nicht angeklagt, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie schwere Gewaltverbrechen begangen hat. Ich glaube, auch Sie müssten mittlerweile bemerkt haben, dass sie psychisch ernsthaft krank ist und Betreuung und Hilfe braucht.«
»Erlauben Sie, dass ich Ihnen zu Hilfe komme«, sagte Annika Giannini freundlich. »Sie haben Angst, dass ich Lisbeth Salander keine optimale Verteidigung gewährleisten kann.«
»Das ist nicht herabsetzend gemeint«, beschwichtigte Ekström. »Ich stelle Ihre Kompetenz nicht infrage. Ich weise nur darauf hin, dass Sie auf diesem Gebiet ein wenig unerfahren sind.«
»Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass ich Ihnen restlos zustimme. Ich bin sehr unerfahren, was Gewaltverbrechen angeht.«
»Und trotzdem haben Sie konsequent jede Hilfe abgelehnt, die Ihnen von bedeutend erfahreneren Anwälten angetragen wurde …«
»Auf Wunsch meiner Mandantin. Frau Salander will mich als Anwältin, und ich werde sie beim Prozess in zwei Tagen vertreten.«
Sie lächelte höflich.
»In Ordnung. Aber ich frage mich doch, ob Sie allen Ernstes vorhaben, den Inhalt dieses Aufsatzes vor Gericht zu präsentieren?«
»Selbstverständlich. Das ist Lisbeth Salanders Geschichte.«
Ekström und Faste tauschten einen Blick. Faste zog die Augenbrauen hoch. Er verstand nicht recht, warum Ekström hier überhaupt so ein Theater machte. Wenn Giannini nicht begriff, dass sie auf dem besten Wege war, ihre Mandantin mit Pauken und Trompeten untergehen zu lassen, dann war das doch nicht sein Problem. Im Gegenteil. Man brauchte es nur dankend anzunehmen und konnte den Fall dann zu den Akten legen.
Dass Salander völlig verrückt war, stand ja sowieso außer Frage. Er hatte all seine Fähigkeiten aufgeboten, um ihr zumindest eine Aussage über ihren Wohnort zu entlocken. Aber das Mädchen war stumm wie ein Fisch geblieben. Sie war ihm keinen Millimeter entgegengekommen. Die Zigaretten, die er ihr anbot, hatte sie nicht angenommen, ebenso wenig den Kaffee oder die kalten Getränke. Sie hatte nicht einmal reagiert, wenn er sehr eindringlich wurde oder im Moment größter Gereiztheit seine Stimme hob.
Es war wohl das frustrierendste Verhör gewesen, das Kriminalinspektor Hans Faste jemals
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