Vergebung
interpretieren, dass sich die paranoiden Züge der Patientin hier so stark entfalten, dass sie sich buchstäblich außerstande sieht, auch nur ein einfaches Gespräch mit irgendeiner Autorität zu führen. Sie glaubt, dass ihr alle nur schaden wollen, und fühlt sich so bedroht, dass sie sich in eine undurchdringliche Schale einschließt und stumm bleibt.«
»Ich merke, dass Sie sich sehr vorsichtig ausdrücken. Sie sagen, man könnte es so interpretieren, dass …«
»Ja, das stimmt. Ich drücke mich vorsichtig aus. Die Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft, und ich muss vorsichtig sein mit meinen Schlüssen. Gleichzeitig ist es aber auch nicht so, dass wir Psychiater nur vage Annahmen äußern.«
»Sie achten sehr sorgfältig darauf, sich abzusichern. In Wirklichkeit sieht es ja so aus, dass Sie seit der Nacht ihres dreizehnten Geburtstages kein Wort mehr mit meiner Mandantin gesprochen haben, da sie sich konsequent weigert, mit Ihnen zu reden.«
»Nicht nur mit mir. Sie redet mit überhaupt keinem Psychiater.«
»Das bedeutet also, dass Ihre Schlüsse, wie Sie hier schreiben, auf Ihrer Erfahrung und Ihren Beobachtungen basieren, die Sie bei meiner Mandantin gemacht haben.«
»Das stimmt.«
»Was kann man folgern, wenn man ein Mädchen beobachtet, das mit verschränkten Armen auf einem Stuhl sitzt und sich weigert zu reden?«
Dr. Teleborian seufzte und sah aus, als fände er es äußerst ermüdend, Selbstverständlichkeiten erklären zu müssen. Dann lächelte er.
»Wenn eine Patientin stumm wie ein Fisch vor einem sitzt, kann man folgern, dass diese Patientin gut darin ist, stumm wie ein Fisch dazusitzen. Allein das ist schon ein gestörtes Verhalten, aber ich gründe darauf natürlich nicht meine Folgerungen.«
»Ich werde heute Nachmittag einen zweiten Psychiater als Zeugen aufrufen. Er heißt Svante Brandén und ist Oberarzt des Rechtsmedizinischen Instituts sowie Spezialist für Rechtspsychiatrie. Kennen Sie ihn?«
Jetzt hatte Dr. Teleborian seine Sicherheit wiedergewonnen. Er lächelte. Er war davon ausgegangen, dass die Verteidigerin einen anderen Psychiater aussuchen würde, der seine Schlussfolgerungen infrage stellte. Auf so eine Situation war er vorbereitet, und er würde jeden Einwand problemlos parieren können. Es war viel einfacher, mit einem akademischen Kollegen die Waffen zu einem freundschaftlichen Gekabbel zu kreuzen als mit so einer Anwältin, die überhaupt keine Hemmungen hatte und sich über jedes seiner Worte lustig machte.
»Ja. Er ist als fähiger Rechtspsychiater anerkannt. Aber Sie müssen verstehen, Frau Giannini, dass ein Gutachten dieser Art ein akademischer und wissenschaftlicher Prozess ist. Sie können sich mit mir über meine Schlussfolgerungen streiten, und ein anderer Psychiater kann eine Tat oder einen Vorfall anders deuten, als ich das tue. Es geht hier um verschiedene Sichtweisen oder einfach darum, wie gut ein Arzt seinen Patienten kennt. Er mag einen ganz anderen Eindruck von Lisbeth Salander gewinnen. Das ist in der Psychiatrie überhaupt nichts Ungewöhnliches.«
»Deswegen rufe ich ihn ja auch nicht als Zeugen auf. Er hat Frau Salander nie kennengelernt und wird auch kein Urteil über ihren Geisteszustand fällen.«
»Aha …«
»Ich habe ihn gebeten, Ihren Bericht und die gesamte Dokumentation zu lesen, die Sie zu Frau Salander vorgelegt haben, und sich ihre Krankenakte aus den Jahren in St. Stefan anzusehen. Ich habe ihn um seine Einschätzung gebeten - nicht zum Geisteszustand meiner Mandantin, sondern zu der Frage, ob sich aus wissenschaftlichem Blickwinkel rechtfertigen lässt, was Sie anhand Ihres Materials für Schlussfolgerungen gezogen haben.«
Dr. Teleborian zuckte die Achseln.
»Bei allem Respekt … ich glaube, ich kenne Lisbeth Salander besser als jeder andere Psychiater dieses Landes. Ich habe ihre Entwicklung verfolgt, seit sie zwölf ist, und leider ist es ja tatsächlich so, dass meine Schlüsse durch ihr Verhalten bestätigt wurden.«
»Gut«, sagte Annika Giannini. »Dann sehen wir uns Ihre Schlussfolgerungen doch noch einmal an. In Ihrem Gutachten schreiben Sie, dass die Behandlung abgebrochen wurde, als sie 15 Jahre alt war und in eine Pflegefamilie kam.«
»Das ist korrekt. Das war ein schwerer Fehler. Hätten wir die Behandlung zu Ende führen können, würden wir heute vielleicht nicht hier sitzen.«
»Sie meinen, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, sie noch ein Jahr länger an ein Stahlbett zu fesseln, wäre sie
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