Vergebung
mich. Er ist vom Oktober 1992 datiert, einem Zeitpunkt also, als Lisbeth schon zwanzig Monate in St. Stefan war. Hier schreibt Dr. Caldin ausdrücklich, Zitat: ›Meine Entscheidung, dass die Patientin nicht mehr fixiert oder zwangsernährt werden darf, hat zu dem sichtbaren Effekt geführt, dass sie jetzt ruhig ist. Bedarf nach Psychopharmaka besteht nicht. Die Patientin ist jedoch extrem verschlossen und in sich zurückgezogen und sollte weiterhin unterstützende Maßnahmen genießen.‹ Zitat Ende.«
»Er schreibt also ausdrücklich, dass das seine Entscheidung war.«
»Richtig. Dr. Caldin persönlich hat dann ja auch entschieden, dass Lisbeth über eine Pflegefamilie wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden soll.«
Lisbeth nickte. Sie erinnerte sich an Dr. Caldin genauso wie an jedes andere Detail ihres Aufenthalts in St. Stefan. Sie hatte sich zwar geweigert, mit Dr. Caldin zu sprechen, denn er war ja auch einer von den Irrenärzten, noch einer in der Reihe von Weißkitteln, die in ihren Gefühlen herumstochern wollten. Aber er war immerhin freundlich und gutmütig. Sie hatte damals in seinem Büro gesessen und gelauscht, als er ihr auseinandersetzte, wie er ihren Fall sah.
Er schien damals gekränkt, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Schließlich sah sie ihm in die Augen und erklärte ihm ihren Entschluss. »Ich werde nie wieder mit Ihnen oder irgendeinem anderen Irrenarzt reden. Sie hören ja doch nie zu, wenn ich etwas sage. Sie können mich hier eingesperrt halten, bis ich sterbe. Das ändert nichts an der Sache. Ich werde nicht mehr mit Ihnen reden.« Er sah sie verwundert an. Dann nickte er aber, als sei ihm gerade etwas klar geworden.
»Dr. Teleborian … Ich habe festgestellt, dass Sie Lisbeth Salander in eine psychiatrische Kinderklinik gesperrt haben. Sie haben dem Gericht das Gutachten zur Verfügung gestellt, auf dessen Basis das Urteil gefällt wurde. Ist das korrekt?«
»Das ist sachlich korrekt. Aber ich bin der Meinung …«
»Sie werden später noch genug Zeit haben, uns zu erklären, welcher Meinung Sie sind. Als Lisbeth Salander 18 Jahre alt wurde, griffen Sie wieder in ihr Leben ein und versuchten, sie erneut in eine Klinik einzuweisen.«
»Diesmal habe aber nicht ich das rechtspsychiatrische Gutachten erstellt.«
»Nein, diesmal stammte es von Dr. Jesper H. Löderman. Zufälligerweise waren Sie damals sein Doktorvater. Dieses Gutachten ist aufgrund Ihrer Einschätzung akzeptiert worden.«
»An diesen Gutachten ist nichts Unethisches oder Unkorrektes. Sie sind nach bestem Wissen und Gewissen erstellt worden.«
»Nun ist Lisbeth Salander 27 Jahre alt, und wir befinden uns zum dritten Mal in der Situation, dass Sie ein Gericht davon überzeugen wollen, sie sei geisteskrank und müsse in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden.«
Dr. Peter Teleborian atmete tief durch. Annika Giannini war bestens vorbereitet. Sie hatte ihn mit einer Reihe hinterhältiger Fragen überrascht und ihm seine Antworten im Mund verdreht. Gegen seinen Charme war sie immun, und auch seine Autorität ignorierte sie völlig. Er war es gewohnt, dass die Menschen zustimmend nickten, wenn er sprach.
Wie viel weiß sie?
Er warf einen Blick zu Staatsanwalt Ekström, erkannte aber, dass er von dieser Seite keine Hilfe erwarten konnte. Diesen Sturm musste er allein durchstehen.
Doch er hielt sich vor Augen, dass er immerhin noch eine Autorität auf seinem Fachgebiet war.
Es spielt überhaupt keine Rolle, was sie sagt. Hier gilt nur meine Einschätzung.
Annika Giannini nahm sein rechtspsychiatrisches Gutachten vom Tisch.
»Wir wollen uns Ihr neuestes Gutachten mal genauer ansehen. Sie verwenden ja einige Energie auf die Analyse von Frau Salanders Seelenleben. Zu weiten Teilen setzt es sich mit Ihrer Interpretation ihrer Persönlichkeit, ihres Benehmens und ihrer sexuellen Gewohnheiten auseinander.«
»Ich habe mit diesem Gutachten versucht, ein Gesamtbild zu geben.«
»Gut. Und Ihr Gesamtbild kommt zu dem Schluss, dass Lisbeth Salander an paranoider Schizophrenie leidet.«
»Auf eine genaue Diagnose will ich mich nicht festlegen.«
»Aber zu diesem Ergebnis sind Sie nicht gekommen, indem Sie Gespräche mit Frau Salander geführt hätten, sehe ich das richtig?«
»Sie wissen sehr gut, dass Ihre Mandantin sich konsequent weigert, Fragen zu beantworten, die ihr von mir oder Mitarbeitern einer Behörde gestellt werden. Schon dieses Verhalten ist äußerst aussagekräftig. Man könnte es so
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