Vergebung
schief.
Sie hatte auch erzählt, was in Gosseberga geschehen war. Doch hatte sie nicht erwähnt, warum sie ihren Vater aufgespürt hatte. War sie dort hingefahren, um ihn zu ermorden - wie der Staatsanwalt behauptete - oder um vernünftig mit ihm zu reden? Juristisch gesehen war das ein himmelweiter Unterschied.
Als Annika Lisbeths ehemaligen rechtlichen Betreuer, den Anwalt Nils Bjurman, zur Sprache brachte, wurde Lisbeth noch einsilbiger. Ihre übliche Antwort lautete dann, sie habe ihn nicht erschossen und dessen sei sie ja auch nicht angeklagt.
Und wenn Annika zur grundlegenden Frage in dieser ganzen Geschichte kam, nämlich Dr. Teleborians Rolle im Jahr 1991, sagte Lisbeth kein Wort mehr.
Das kann niemals funktionieren , dachte Annika. Wenn Lisbeth mir nicht vertraut, werden wir den Prozess verlieren. Ich muss mit Mikael reden .
Lisbeth Salander saß auf der Bettkante und sah aus dem Fenster. Sie konnte die Fassade auf der anderen Seite des Parkplatzes erkennen. Nachdem Annika Giannini wutentbrannt aufgestanden und die Tür hinter sich zugeknallt hatte, hatte Lisbeth ungestört und reglos über eine Stunde lang so dagesessen.
Sie war sauer auf Annika Giannini. Im Grunde konnte sie schon verstehen, warum ihr die Anwältin ständig wegen der Details aus ihrer Vergangenheit in den Ohren lag. Sie begriff auch, warum Annika alle Fakten brauchte. Doch hatte sie nicht die mindeste Lust, über ihre Gefühle und ihre Handlungen zu reden. Ihrer Meinung nach war ihr Leben immer noch ihre Privatangelegenheit. Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass ihr Vater ein pathologischer Sadist und Mörder war. Es war nicht ihre Schuld, dass ihr Bruder ein Massenmörder war. Gott sei Dank wusste niemand, dass er ihr Bruder war, denn sonst würde man ihr das mit Sicherheit in ihrem psychologischen Gutachten zur Last legen, das man früher oder später erstellen würde. Sie hatte Dag Svensson und Mia Bergman nicht ermordet. Sie hatte sich keinen rechtlichen Betreuer ausgesucht, der sich als Schwein und Vergewaltiger herausstellte.
Trotzdem wollte man nun ausgerechnet bei ihrem Leben das Innerste nach außen kehren, sie zwingen, dass sie sich erklärte und entschuldigte.
Dabei wollte sie doch einfach nur ihre Ruhe. Und letztlich musste doch nur sie selbst mit sich leben können. Sie erwartete ja gar nicht, dass irgendjemand ihr Freund war. Annika Fucking Giannini stand ihr zwar getreulich zur Seite, aber das war eine professionelle Verbundenheit, denn sie war ja ihre Anwältin. Kalle Fucking Blomkvist war irgendwo da draußen - Annika äußerte sich kaum zu ihrem Bruder, und Lisbeth stellte keine Fragen. Sie rechnete nicht damit, dass er sich sonderlich ins Zeug legte, jetzt, da der Mord an Dag Svensson aufgeklärt war und er seine Story hatte.
Sie fragte sich, was Dragan Armanskij nach all den Ereignissen wohl von ihr dachte.
Sie fragte sich, wie Holger Palmgren die Situation einschätzte.
Laut Annika Giannini hatten sich beide auf ihre Seite geschlagen, aber das waren ja alles nur Worte. Sie konnten überhaupt nichts tun, um ihre privaten Probleme zu lösen.
Sie fragte sich, was Miriam Wu wohl für sie empfinden mochte.
Sie fragte sich, was sie für sich selbst empfand, und kam zu der Erkenntnis, dass sie ihrem Leben vor allem gleichgültig gegenüberstand.
Plötzlich wurde sie davon aufgescheucht, dass der Securitas-Wachmann den Schlüssel ins Schloss steckte und Dr. Anders Jonasson hereinließ.
»Guten Abend, Frau Salander. Wie geht es Ihnen denn heute?«
»Okay«, erwiderte sie.
Er sah sich ihr Krankenblatt an und stellte fest, dass sie fieberfrei war. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass er sie ein paarmal pro Woche besuchte. Von allen Menschen, die mit ihr umgingen und an ihr herumfummelten, war er der einzige, dem sie ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbrachte. Mehr als einmal hatte sie bemerkt, dass er sie ein wenig seltsam von der Seite ansah. Er kam in ihr Zimmer, schwatzte ein wenig mit ihr und untersuchte ihren Körper. Er fragte nicht nach Ronald Niedermann oder Alexander Zalatschenko oder ob sie verrückt war oder warum die Polizei sie einsperrte. Das Einzige, was ihn zu interessieren schien, waren die Funktionen ihrer Muskeln, die Fortschritte in der Heilung ihres Gehirns und ihre gesundheitliche Verfassung im Allgemeinen.
Außerdem hatte er buchstäblich in ihrem Hirn herumgewühlt. Jemand, der in ihrem Hirn herumgewühlt hatte, musste mit Respekt behandelt werden, fand sie. Und
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