Vergebung
Sie holte sich einen Kaffee aus dem Speisewagen, ging an ihren Platz und schlug ihre Mappe mit den Notizen vom letzten Gespräch mit Lisbeth Salander auf. Was auch zu den Gründen gehörte, dass sie so müde und gereizt war.
Sie verheimlicht mir etwas , dachte Annika Giannini. Und Micke verheimlicht mir auch was. Wer weiß, was die beiden da aushecken.
Sie kam zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Verschwörung - wenn es denn eine war - um eine verschwiegene, selbstverständliche Übereinkunft handeln musste, denn ihr Bruder und ihre Mandantin hatten ja keine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren.
Sie befürchtete, dass es hier um eine Frage der Moral ging; für so etwas hatte ihr Bruder schon immer eine Schwäche gehabt. Er war Lisbeth Salanders Freund. Sie kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass er bei Leuten, die er als seine Freunde betrachtete, loyal bis zur Einfältigkeit war. Sie wusste aber auch, dass Mikael viele Dummheiten akzeptieren konnte, es jedoch eine unausgesprochene Grenze gab, die nicht überschritten werden durfte. Wo genau diese Grenze lag, schien zu variieren. Mikael hatte schon mit einigen Freunden gebrochen, weil sie etwas getan hatten, was er unmoralisch oder inakzeptabel fand. Dieser Bruch war dann absolut und für immer und nicht mehr verhandelbar. Mikael ging nicht einmal mehr ans Telefon, wenn der Betreffende anrief, um ihn um Verzeihung anzuflehen.
Was in Mikaels Kopf vorging, begriff Annika Giannini so einigermaßen. Was jedoch in Lisbeth Salander vorging, davon hatte sie nicht die geringste Ahnung. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass in ihrem Kopf alles stillstand.
Von Mikael hatte sie erfahren, dass Lisbeth Salander launenhaft war und manchmal extrem reserviert gegenüber ihrer Umgebung. Bis sie sie kennenlernte, hatte Annika das für einen vorübergehenden Zustand gehalten, der sich durch wachsendes Vertrauen überwinden ließ. Aber nach einem Monat mit Gesprächen - wenn man von den ersten beiden Wochen absah, in denen Lisbeth außerstande gewesen war, mit jemandem zu reden - stellte sie fest, dass ihre Unterhaltungen zum Großteil einseitig verliefen.
Annika hatte auch bemerkt, dass Lisbeth Salander manchmal in tiefer Depression gefangen schien und nicht das geringste Interesse an ihrer Situation oder ihrer Zukunft hegte. Als schiene sie nicht zu verstehen (oder sich nicht darum zu scheren), dass Annika sie nur dann einwandfrei verteidigen konnte, wenn sie auch alle Fakten kannte. Sie konnte keine gute Arbeit leisten, wenn sie im Dunkeln tappte.
Lisbeth Salander war widerborstig und einsilbig. Wenn sie etwas sagte, überlegte sie erst lange und formulierte dann ganz exakt. Oftmals antwortete sie auch überhaupt nicht, dann wieder beantwortete sie plötzlich eine Frage, die Annika ihr vor ein paar Tagen gestellt hatte. Bei der polizeilichen Vernehmung saß Lisbeth Salander stumm in ihrem Bett und blickte starr in die Luft. Abgesehen von einer einzigen Ausnahme hatte sie kein Wort mit der Polizei gewechselt. Diese Ausnahme war Marcus Erlanders Frage nach Ronald Niedermann gewesen; da hatte sie ihn angesehen und jede Frage sachlich beantwortet.
Annika war darauf vorbereitet, dass Lisbeth der Polizei nichts sagen würde. Sie sprach aus Prinzip nicht mit Behörden. Was in diesem Fall ja von Vorteil war. Obwohl Annika ihre Mandantin aus formalen Gründen regelmäßig aufforderte, die Fragen der Polizei zu beantworten, war sie im Grunde zufrieden mit Salanders Unzugänglichkeit. Der Grund war einfach. Ihr Schweigen war nämlich konsequent. Es enthielt keine Lügen, die man ihr hätte nachweisen können, und keine Widersprüche, die im Prozess schlecht ausgesehen hätten.
Als sie allein waren, fragte sie Lisbeth einmal, warum sie sich gar so demonstrativ weigerte, mit der Polizei zu sprechen.
»Die verdrehen doch nur, was ich sage, und verwenden es dann gegen mich.«
»Aber wenn Sie sich nicht erklären, werden Sie verurteilt werden.«
»Dann ist das eben so. Ich habe mit diesem ganzen Schlamassel nichts zu tun. Wenn sie mich dafür verurteilen wollen, ist das ihr Problem.«
Lisbeth Salander hatte Annika im Laufe der Zeit alles erzählt, was in Stallarholmen geschehen war, auch wenn Annika ihr die Worte oft genug aus der Nase ziehen musste. Alles außer einer Sache. Sie erklärte nie, wie es dazu gekommen war, dass Magge Lundin eine Kugel in den Fuß bekommen hatte. Sooft Annika auch fragte und bohrte, Lisbeth Salander sah ihr nur in die Augen und grinste
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