Vergeltung
Janes ruhiger monotoner Tonfall wurde zu einem
boshaften Fauchen. Der Kontrast zwischen der gutmütigen Pfarrersfrau und
Mutter, die den Weihnachtsbasar organisierte und Kuchen backte, und der
kaltblütigen Mörderin erfüllte Rebekka mit einem abgrundtiefen Grauen. Nur
selten gelang es, solchen Menschen ihr Vorhaben auszureden, und ihr war klar,
dass sie, wenn sie eine Überlebenschance haben wollte, hart zuschlagen musste,
sobald sich ihr die Gelegenheit bot. Sie musste näher an sie herankommen und
versuchen, ihr die Pistole zu entreißen. Rebekka war schwindelig. Aber sie
musste bei Bewusstsein bleiben. Wenn sie jetzt in Ohnmacht fiele, würde Jane
Mathiesen nicht zögern, sie hinunterzustoßen. Ob Teit
Jørgensen wohl bald kam? Rebekka zog vorsichtig an der Eisenstange. Sie
ließ sich etwas bewegen, und Rebekka überlegte, ob sie sie ganz herauslösen und
als Waffe gebrauchen konnte. Sie musste Jane Mathiesen dazu bringen weiterzuerzählen.
Aus Erfahrung wusste sie, dass die meisten Mörder ihre Untaten gerne bis ins
Detail beschrieben, wenn sie erst einmal entlarvt waren. Der Drang, sich zu
erleichtern, war groß.
»Warum Katja?«, flüsterte Rebekka heiser und wischte sich vorsichtig
mit der Rückseite ihres Ärmels das Blut weg.
»Katja hat alles gewusst. Offenbar hat sie das Tagebuch aufbewahrt,
in dem Anna alles aufgeschrieben hatte. Katja hat mich am Freitag angerufen.
Sie wollte Geld für ihr Schweigen. Ich war schockiert. Ich konnte nicht
glauben, dass ich so ein Pech haben sollte. Wieder war ich gezwungen, einen
drastischen Entschluss zu fassen.« Sie sah traurig aus.
»Katja hätte es ja noch anderen erzählt haben können. Und Anna auch.
Das konnten Sie schließlich nicht wissen.«
Jane Mathiesen lächelte schwach.
»Anna hat mir erzählt, dass sie es keiner lebenden Seele verraten
hat. Es sollte unser Geheimnis bleiben. Deshalb war ich auch so überrascht, als
Katja mich anrief. Und Katja hat mir selbst gesagt, dass sie als Einzige das
Tagebuch gelesen hat. Ich wusste, dass sie allein war und ihre Haustür sich
leicht öffnen ließ. Ich habe sie im Bad überrascht, das Luder, und da hat sie
mich gekratzt.« Sie zeigte mit zitterndem Finger auf ihren Hals. Dann starrte
sie Rebekka wütend an.
»Sie verstehen das nicht. Das war so nicht geplant. Ich bin ein
guter Mensch. Das bin ich wirklich. Als ich Kenneth zur Welt gebracht habe und
die Ärzte uns gesagt haben, dass er behindert ist, war ich überzeugt, dass das
die Strafe ist. Meine Strafe für den Fehltritt in Cannes, meine Strafe für
Anna. Ich war überzeugt, dass Gott mir vergeben würde, wenn ich den Jungen
aufzog und gut für ihn sorgte. Doch egal, wie sehr ich mir Mühe gebe, die
Vergangenheit holt mich immer wieder ein.«
Etwas Dunkles löste sich in Rebekka und zersplitterte mit einem
dumpfen Knall. Schwarze Trauer breitete sich mit rasender Geschwindigkeit in
ihrem Inneren aus.
»Warte, Robin,
du sollst auf mich warten.« Rebekkas Ruf verliert sich im Wind. Sie taumelt
weiter durch den Sand. Robin dreht sich nicht um. Er läuft weiter.
»Robin, Robin, stopp –
denk daran, dass wir nicht ins Wasser dürfen.«
Robin ist fast unten am
Wasser. Er schleudert die Holzschuhe von sich und windet sich schnell aus
seinem gelben T-Shirt. Das Meer tost. Die Wellen sind hoch und schwarz mit weißen
Schaumkronen. Rebekka wirft ihre Holzschuhe weg und läuft, so schnell sie kann,
zum Wasser hinunter. Der Sand brennt unter ihren nackten Füßen. Sie sieht Robin
in die Wellen hineinlaufen. Er kreischt vor Freude und dreht sich zu ihr um und
winkt. Dann verschwindet er in einer Welle. Rebekka springt mit einem Satz ins
Meer. Das Wasser ist eiskalt auf der warmen Haut. Sie keucht überrascht, dann
wird sie unter Wasser gezogen. Sie schluckt eine große Menge kaltes Salzwasser.
Die Wellen schlagen hart gegen ihren Körper. Sie bekommt keine Luft. Wird
herumgewirbelt und versucht, sich an die Oberfläche zu kämpfen. Endlich gelingt
es ihr.
»Robin, Robin.« Rebekka
brüllt seinen Namen, so laut sie kann. Sie sieht sich nach allen Seiten um,
kann ihn aber nirgends entdecken. Schnell taucht sie unter Wasser, kämpft gegen
die kräftigen Wellen. Sie muss ihn finden. Robin. Ihren Robin.
Sie sucht weiter, ringt
nach Luft, atmet tief ein und taucht wieder unter Wasser. Nichts. Der Druck auf
ihre Lungen ist stark. Sie spürt ihre Arme und Beine nicht.
Alles um sie herum wird
schwarz.
Rebekka spürte die kalte
Pistolenmündung im Nacken. Jane
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