Vergeltung
Sie hatte viel dafür getan, dass Anna Kontakt zu
ihrem Vater, Gregers, hatte, und obwohl Gregers bei Weitem nicht so reif und
kooperativ gewesen war wie sie, war es ihnen schließlich gelungen, eine gute
Regelung zu finden.
Katrine griff nach einer Staude dunkelgelber Bananen. Anna liebte
Bananen, zerdrückt mit gepresstem Orangensaft. Aus dem Augenwinkel sah sie die
kleine Gestalt zu den Regalen mit den Süßigkeiten am anderen Ende des Ladens
hüpfen.
»Anna, Anna, bleib hier«, rief sie, und das Kind drehte sich in
seiner hellroten Windjacke zu ihr um und lächelte ihr zu, den Schnuller schief
im Mund. Katrine winkte es zu sich und drehte sich zu den Kartoffeln um. Sie
tat einige in eine Plastiktüte und legte sie auf die Waage. 935 Gramm. 14,65
Kronen. Sie knotete die Tüte zu, packte sie in den Einkaufswagen und griff nach
einer Schale verlockender dunkelroter Himbeeren.
Sie roch an ihnen und spürte den leicht säuerlichen Geschmack
förmlich auf der Zunge. Sie konnten heute Abend Vanilleeis mit Himbeeren zum
Nachtisch essen, als extra Leckerbissen. Die Himbeeren würden bestimmt gut
ankommen, doch mit welchem Gemüse könnte sie ihre Tochter locken? Anna war so
wählerisch, wenn es um Grünzeug ging. Katrine seufzte leicht. Sie wollte sie so
gerne mit Vitaminen vollstopfen, damit sie gesund, stark und widerstandsfähig
wurde. Nicht wie die unterernährten Kinder, die sie in Afrika betreut hatte.
Sie sah ihre großen schwarzen Augen vor sich und verweilte kurz bei den
Erinnerungen – die kleine Kadia war verhungert und Jakobi mit den leeren
schwarzen Augen war aus Kummer über den Tod seiner Eltern gestorben. Katrine
wurde schwer ums Herz, und sie blinzelte die Tränen fort. Dann merkte sie, dass
Annas Plappern aufgehört hatte. Das Kind spielte nicht mehr in ihrer Nähe.
»Anna, Anna, wo bist du?«
Eine leise Unruhe ergriff von ihr Besitz, und sie sah sich schnell
nach allen Seiten um. Sie konnte Anna nirgends sehen, nur eine Menge fremder
Gesichter. Ihre Tochter musste in der Nähe sein, es waren kaum ein paar Minuten
vergangen, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Katrine spähte in dem
Menschengewühl umher, über Theken mit Fleisch und Aufschnitt, an den Milchprodukten
vorbei zur Feinkost. Anna war weg.
Ihr Magen krampfte sich zu einer harten Kugel zusammen, sie fühlte
sich kraftlos. Die Schale mit den Himbeeren fiel ihr aus der Hand. Die Beeren
verteilten sich wie dunkelrote Punkte über den grauen Linoleumboden und
zerplatzten. Wie Blutstropfen.
Ruhig atmen. Katrine versuchte, ihren
keuchenden Atem unter Kontrolle zu bekommen. Natürlich war Anna nicht weg.
Wahrscheinlich war sie wieder zu den Regalen mit den Süßigkeiten gelaufen. Sie
liebte Süßigkeiten. Katrine lief durch die langen Gänge. Drängte sich an Leuten
mit Einkaufswagen, Körben und schreienden Kindern vorbei. An den langen Reihen
mit Keksen und Brot, Müsli, Tee und Kaffee.
»Anna, Anna, Anna«, rief sie und merkte, dass ihre Stimme durch die
Angst einen schrillen Klang bekommen hatte. Ein älterer Mann blieb stehen und
sah sie erstaunt an.
»Haben Sie ein kleines Mädchen in einer hellroten Windjacke gesehen,
ungefähr so groß?« Katrine zeigte bis zur Mitte ihrer Oberschenkel.
Der Mann schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, leider nicht, ist sie weg?«
»Ja, nein. Ich weiß es nicht.«
Sie lief weiter. Der Puls in den Schläfen pochte heftig. Es musste
doch Personal geben, das helfen konnte.
»Anna … Anna.« Sie kam zu den Regalen mit Süßigkeiten und
Schokolade. Ein paar Schulkinder wühlten in den Körben herum, doch Anna war
nicht da. Katrine war einer Ohnmacht nahe. Sie streckte die Hand nach einer
zufällig vorbeikommenden Frau aus, die erschrocken vor ihr zurückwich.
»Helfen Sie mir, helfen Sie mir, mein Kind ist weg. Hilfe.« Sie
hörte ihren Schrei und war überrascht von seiner Kraft. Ihr wurde schwarz vor
Augen, der Supermarkt drehte sich um sie, sie spürte, wie ihre Beine nachgaben,
und sah den Boden auf sich zurasen. Für einige Sekunden umfasste sie eine
befreiende Dunkelheit, dann kroch die Wirklichkeit langsam wieder in ihr
Bewusstsein. Sie blinzelte, sah sich um und registrierte, dass sich eine
größere Menschentraube um sie versammelt hatte. Die Leute standen dicht vor
ihr, beugten ihre Gesichter zu ihr herunter, so tief, dass sie ihren Geruch
wahrnahm. Sie sollten ihr lieber helfen, Anna zu finden, statt dazustehen und
sie anzustarren. Sie wollte ihnen etwas zurufen, bekam aber kein Wort
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