Vergeltung
heraus.
Ihr Brustkasten schnürte sich zusammen, sie hatte Schwierigkeiten, Luft zu
bekommen.
»Was ist mit der Frau?«
Ein kleiner Junge sah sie neugierig an und über ihrem Kopf hörte sie
das Gemurmel von Stimmen.
»Sie muss psychisch krank sein.«
»Ja, das sieht ganz nach einem Panikanfall aus.«
»Sie hat nach ihrem Kind gerufen.«
Das Summen der Stimmen stieg zur Decke auf und vermischte sich mit
dem grellen weißen Licht der länglichen Leuchtstoffröhren. Ihr fiel auf, dass
es lange her sein musste, dass die Lampen das letzte Mal sauber gemacht worden
waren. Dann erklang in der Ferne eine Sirene.
—
Die Meldung kam um 18.03
Uhr herein. Rebekka saß allein in ihrem Büro im Polizeipräsidium und schrieb
ihre Notizen über den Besuch bei Sanna Gudbergsen ins Reine, als der
wachhabende Beamte sie anrief. Sie begriff, dass ein zweijähriges Mädchen aus
dem Supermarkt Bilka verschwunden war, während es mit seiner Mutter dort einkaufen
war.
»Das Erschreckende ist, dass das
Kind auch Anna heißt«, sagte er, und Rebekka sprang von ihrem Stuhl auf, griff
nach Jacke und Tasche und lief aus dem Zimmer hinunter zu ihrem Auto. Die
Information beunruhigte sie zutiefst, und sie drückte das Gaspedal durch.
Der Bilka lag am Søndre Ringvej und war der größte Supermarkt dieser
Kette in Jütland. Er erstrahlte wie ein riesiger, gelber Legoklotz in der
einsetzenden Dämmerung. Als Rebekka auf den Parkplatz fuhr, sah sie, dass
bereits ein Krankenwagen und zwei Polizeiautos vor Ort waren und eine
Hundestaffel vor dem Eingang Stellung bezogen hatte. Viele Kunden standen vor
dem Laden und glotzten neugierig durch die Glastüren, während drei Polizisten
mit Absperrband herumliefen, damit kein Auto unbeobachtet den Parkplatz
verlassen konnte. Ein Autofahrer versuchte trotzdem, sich an der Absperrung
vorbeizumogeln. Rebekka lief zu dem Auto, klopfte an die Fensterscheibe und
machte dem Fahrer ein Zeichen, das Fenster herunterzulassen. Ein feister Mann
mittleren Alters mit einem breiten, rosigen Gesicht und feinen Bartstoppeln
starrte sie verärgert an. Widerwillig ließ er das Fenster herunter.
»Ich muss nach Hause«, brummte er.
»Das wird wohl noch etwas dauern. Ein kleines Mädchen ist
verschwunden, und alle hier müssen erst einmal warten«, antwortete sie und sah
ihn kühl an. Einen Augenblick starrten sie sich an, dann stöhnte der Mann
hitzig auf und setzte das Auto mit kreischenden Reifen zurück in die Parklücke.
Er verschränkte die Arme und starrte wütend vor sich hin.
Rebekka ignorierte ihn und stürzte zum Haupteingang. Im gleichen
Moment trafen Teit Jørgensen, Michael und David ein. Susanne war bereits mit
vier Polizisten im Laden. Sie teilten die Kunden und das Personal in Gruppen
ein und nahmen die Namen auf.
Rebekka bekam Susanne zu fassen.
»Wo ist die Mutter?«
»Sie heißt Katrine Jelager und sitzt im Personalraum«, antwortete
Susanne und zeigte auf eine Tür hinten im Laden. Rebekka ging auf die Tür zu,
klopfte und trat in eine Art Frühstücksraum für das Personal. Offensichtlich
wurde hier alles getan, damit die Angestellten sich in ihrer Pause wohlfühlten.
Der Raum war groß. Um einen langen Tisch aus hellem Holz stand eine Gruppe von
Stühlen in einem klaren Blauton. Die Wände zierte eine Serie gerahmter Arnoldi-Lithografien
in fröhlichen Farben. In einer Ecke saß eine junge blasse Frau mit langen
blonden Haaren. Sie zitterte leicht. Sie war in eine graue Sanitätsdecke
eingepackt. Ihre Augen waren geschlossen, die blassen Lippen fest zusammengepresst.
Neben ihr stand ein Sanitäter und telefonierte. Sein Kollege sprach mit einem
rundlichen jungen Mann in einem lässigen hellen Anzug, von dem Rebekka annahm,
dass er der Filialleiter war. Sie stellte sich vor und hockte sich vor die
junge Frau.
»Hallo, Katrine, ich heiße Rebekka und bin von der Polizei. Ich
werde Ihnen helfen, Ihre Tochter Anna zu finden.«
Katrines rechte Augenbraue zitterte leicht, als Rebekka den Namen
der Tochter erwähnte, doch ansonsten erfolgte keine Reaktion. Der andere
Sanitäter gesellte sich zu ihnen, und Rebekka blickte zu ihm hoch.
»War sie die ganze Zeit so?«
Er nickte.
»Sie ist katatonisch. Sie hat nichts gesagt. Der Blutdruck ist in
Ordnung, und wir haben versucht, ihr Zuckerwasser einzuflößen, aber sie hat
nicht reagiert. Wir nehmen sie jetzt mit.«
Rebekka nickte. Es stand außer Zweifel, dass Katrine Jelager einen
Schock hatte.
»Außer Name und Alter wissen wir also nichts
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