Vergeltung
und Mitgefühl.
»Haben Sie überall gründlich nachgeschaut?«, fragte Rebekka und
schämte sich plötzlich für ihr Misstrauen.
»Natürlich«, murmelte Sanna Gudbergsen, »weiß Gott, das habe ich.
Ich habe Gert im Krankenhaus angerufen und gefragt, und er ist sich ganz
sicher, dass das Dokument zusammen mit unseren Pfandbriefen im Safe liegt. Aber
da ist es nicht.«
»Anna muss das Dokument gefunden haben«, sagte Rebekka. Sie wollte
Sanna Gudbergsen noch nicht erzählen, dass ihre Tochter gewusst hatte, dass sie
und ihr Mann nicht ihre biologischen Eltern waren.
»Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nichts gewusst hat. Sie
kannte den Code für den Safe auch nicht. Aber weg ist es trotzdem.«
Erneut schien Sanna Gudbergsen einen Schluck zu trinken.
»Sanna«, sagte Rebekka ernst, »versuchen Sie, sich an den Namen des
Vermittlers zu erinnern, an Ihren Arzt, der die Adoption in die Wege geleitet
hat. Das ist sehr, sehr wichtig.«
»Das ist schon so lange her.« Sanna Gudbergsen klang sehr weit weg.
»Sind Sie okay?«, fragte Rebekka, hörte jedoch nur noch ein Klicken.
Sanna Gudbergsen hatte aufgelegt.
Teit Jørgensen, Michael und Egon konzentrierten sich darauf, eine
Strategie auszuarbeiten. Bettina war hinzugerufen worden. Sie saß in einem sehr
engen, zugeknöpften Rock in Michaels Nähe auf der Tischkante. Sie machte sich
eifrig Notizen und würdigte Rebekka keines Blicks, als diese kurz darauf zurückkam.
Es wurde beschlossen, dass Egon und David noch einmal nach Esbjerg fahren
sollten, um mit sämtlichen Nachbarn im Haus zu reden. Außerdem mussten
Kristian, Kenneth und Erik nochmals vernommen werden. Als sie gerade fertig
waren, steckte Albæk den Kopf zur Tür herein.
»Das Krankenhaus hat angerufen. Herr Larsson ist aufgewacht. Er ist
für eine Befragung noch zu schwach, morgen dürften wir mehr Glück haben«,
teilte er mit, und sie setzten Herrn Larsson auf die morgige Agenda.
—
»Anna, Anna sieh mal.«
Katrine Jelager nahm die Zweijährige
auf den Arm, damit das Mädchen die Auslagen mit Obst und Gemüse besser sehen
konnte. Anna lachte entzückt bei dem Anblick der Farben, und Katrine setzte sie
sanft wieder ab.
»Auf was hast du Lust, Anna?«
»Nananas haben, Nananas haben.«
Das Mädchen hüpfte begeistert auf und ab, während es mit einem
kleinen pummeligen Finger auf das Obst zeigte.
»Nananas, Nananas«, wiederholte es, und Katrine amüsierte sich über
die Babysprache ihrer Tochter.
»Okay, okay, Schatz. Wir nehmen von allem etwas.«
Sie lächelte über die Freude der Tochter und griff nach der Rolle
mit den durchsichtigen Tüten, die zwischen den Pflaumen lag. Sie hatte Glück,
dass ihr Kind selbst jetzt am späten Nachmittag, wo die meisten Kinder müde vor
dem Fernseher saßen, so gute Laune hatte. Katrine riss eine Tüte von der Rolle
ab und füllte sie mit großen roten Äpfeln. Sie griff nach einer Ananas und
legte sie in den großen Einkaufswagen. Während sie sich nach einer Gurke
umdrehte, hörte sie Anna begeistert neben sich plappern.
»Kuckuck!«, juchzte sie. Katrine drehte sich schnell in die andere
Richtung und sah den blonden Schopf des Kindes hinter einem hohen Stapel Mineralwasser
verschwinden, der ein paar Meter entfernt stand. Im Supermarkt war es voll, die
Leute hasteten mit ihren überquellenden Einkaufswagen an ihr vorbei. Das Wochenende
stand bevor und viele hamsterten Grillkohle und Würstchen in der Hoffnung, dass
das gute Wetter noch etwas anhielt.
»Anna, Anna«, rief Katrine mehrere Male laut, während sie Mohrrüben
und rote Paprika holte.
»Kuckuck, Anna. Kuckuck, Anna«, rief das Mädchen immer wieder, und
Katrine freute sich erneut, wie pflegeleicht ihre Tochter doch war. Was für ein
Glück, wo sie jetzt so viel allein mit ihr war.
»Passen Sie doch auf, Ihr Wagen steht im Weg«, zischte eine Frau
mittleren Alters, als sie an Katrine vorbeiging, und Katrine schob ihren
Einkaufswagen schnell dicht neben die Auslage mit Obst, während sie sich
wunderte, wie reizbar einige Menschen doch waren. Der Kontrast zwischen der
allgemeinen Unzufriedenheit ihrer Landsleute, obwohl es ihnen wirtschaftlich so
gut ging, und der Freude der Afrikaner trotz Hunger und Armut beeindruckte sie
immer wieder und beschämte sie zutiefst. Sie musste bald wieder auf Reisen
gehen und die Welt erforschen, zusammen mit Anna. Das brauchte sie. Das letzte
Jahr hatte im Zeichen der Scheidung gestanden, doch sie spürte, dass sie einen
Wendepunkt erreicht hatte.
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