Vergeltung
über die Tochter?«
Er zuckte bedauernd die Schultern.
»Ich weiß nichts, tut mir leid. Ihre Kollegin hat ihre Tasche an
sich genommen.«
Eine Trage wurde in den Raum gebracht, und Rebekka wandte sich an
den Filialleiter, der völlig außer sich war. Er fuhr sich nervös durch die
spärlichen Haare. Sein heller Anzug war durchgeschwitzt. Der Schweiß hatte
unter den Armen große dunkle Flecken hinterlassen.
»Ich habe bereits erzählt, was ich weiß, und das ist so gut wie
nichts«, stammelte er und sah sie bekümmert an. »Ich habe im Büro gesessen und
bin den Tagesumsatz durchgegangen, als einer der Angestellten die Tür aufgerissen
und gerufen hat, dass im Laden eine schreiende Frau auf dem Boden liegt, die
nach ihrem Kind ruft. Wir haben umgehend bei Ihnen angerufen, und nun ja …«, er
machte eine verzweifelte, ausholende Armbewegung, »mehr weiß ich auch nicht.«
Rebekka legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Sie haben genau das Richtige getan. Ich möchte Sie bitten, zusammen
mit dem Personal hier zu warten.«
Er nickte, und sie ging wieder in den Supermarkt.
Ein paar hundert Kunden waren aufgehalten worden, und alle redeten
durcheinander, während ständig eines der unzähligen Handys klingelte. Es
geschah nicht jeden Tag, dass ein Kind in Dänemark verschwand, und die Stimmung
war hektisch, die meisten wollten gerne mit Informationen helfen und nur wenige
Kunden wurden der Polizei gegenüber unverschämt. Es freute Rebekka zu sehen,
dass Susanne die Situation unter Kontrolle hatte.
»Wir möchten Sie alle bitten, Ruhe zu bewahren und mit uns
zusammenzuarbeiten. Stellen Sie sich bitte in einer Reihe an die Tische, die
wir hier drüben aufgestellt haben, dort können Sie Ihre Aussage machen und sich
ausweisen«, sagte Susanne durch das Megafon. Rebekka kam schnell zu dem
Schluss, dass es ein langer Abend und eine lange Nacht werden würde, da jeder
Einzelne, der sich im Supermarkt befand, verhört und die Autos durchsucht
werden mussten.
»Hier ist ihre Tasche.«
Michael reichte ihr einen kleinen schwarzen Rucksack. Darin war eine
rote Lederbörse, in der ein Führerschein, eine EC-Karte und zwei
Versicherungskarten von Katrine und Anna Jelager steckten. Darüber hinaus
enthielt die Tasche eine Packung feuchte Tücher und ein Buch über Mali. Rebekka
schaute noch einmal in den Rucksack, um sicherzugehen, dass sie nichts
übersehen hatte. Ein pinkfarbener Schnuller leuchtete ihr aus der Tiefe der Tasche
entgegen.
—
Katja erwachte mit einem
Ruck. Sie lag still in dem halbdunklen Zimmer und lauschte, während sich ihr
Herzschlag langsam beruhigte. Sie hatte wieder Albträume gehabt. Sie hatte von
Anna geträumt, hatte sie in dem Wald liegen sehen, aufgeschlitzt, mit großen
starrenden Augen.
Sie stand aus ihrem kuscheligen Bett
auf und schlich sich zur Fensterbank, wo sie die alte rote Lampe einschaltete,
die sie aus ihrem Elternhaus mitgebracht hatte. Das Zimmer wurde in gedämpftes
rotes Licht getaucht, wie Katja es liebte. Hurenleuchte , hatte Anna die Lampe
einmal genannt. Katja merkte, dass sie die Bemerkung noch immer verletzte. Der
Wecker stand auf dem Fußboden. Es war 19.15 Uhr. Ihr Nachmittagsschlaf war ein
wenig länger ausgefallen als geplant. Sie sah sich in dem unordentlichen Zimmer
um. Sie musste aufräumen, ihre Sachen ausmisten. Im Gegensatz zu Mia war sie
ein furchtbar unordentlicher Mensch, was unaufhörlich zu Streitereien zwischen
ihnen führte. Sie musste jedoch zugeben, dass es im Moment wirklich schlimm aussah,
man konnte die alten Holzplanken vor Schuhen, Klamotten und Büchern kaum sehen.
Katja zuckte die Schultern, zog die letzte Zigarette aus der Packung, zündete
sie an und kroch zurück ins Bett. Sie fuhr mit der Hand an der Matratze entlang
und bekam das Tagebuch zu fassen. Annas Tagebuch. Es war klein und in braunes
Kalbsleder gebunden, mit einem großen goldenen Schloss. Typisch Anna. Katja
musste lächeln. Sie hatte keinen Schlüssel, den hatte Anna behalten.
Alles hatte mit dem Tagebuch angefangen. Vor einem Monat hatte Anna
Katja gebeten, das Tagebuch für sie in Verwahrung zu nehmen, da sie meinte,
dass es bei ihr zu Hause nicht sicher wäre. Sie ging nicht ins Detail, doch
Katja hatte den Eindruck gehabt, dass es etwas mit Annas Vater zu tun hatte.
»Du weißt ja, wie mein Vater ist«, hatte Anna gesagt, »er will immer
alles wissen und kramt in meinen Sachen herum. Das Tagebuch gehört mir, mir
allein.«
Sie hatten im Bikini am Fjord gelegen
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