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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Hastrup
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bei mir zu provozieren. Wenn ich sie dann nach ihrer
Kindheit gefragt und ihr erklärt habe, dass Menschen, die so promiskuitiv sind
wie sie, oft als Kind missbraucht wurden, ist sie sehr wütend geworden. Sie hat
es reinweg abgestritten, was unsere Sitzungen nicht gerade leicht gemacht hat.«
Er schwieg einen Augenblick und wischte sich irgendeinen imaginären Schmutz von
den Füßen.
    »Was meinen Sie mit nicht gerade leicht gemacht?« Rebekka war
plötzlich angespannt.
    »Es ist nicht leicht, jemanden zu behandeln, der in seinem tiefsten
Inneren nicht behandelt werden will und der versucht, den Therapeuten
hereinzulegen, indem er nicht mit ihm zusammenarbeitet«, antwortete er wütend.
     
    Das Bild ist in
klaren Farben gemalt. Oben in der rechten Ecke ist eine runde goldene Sonne mit
Augen und einem fröhlichen Mund, die auf die Figuren im Gras herabscheint. Am
Himmel sind blaue Wolken und fliegende Vögel mit Würmern in den Schnäbeln. Im
Gras stehen drei Menschen: ein Mann, eine Frau und ein Mädchen. Sie lächeln.
Sie malt die Figuren vorsichtig mit den neuen Filzschreibern aus. Die Mutter
trägt ein rotes Kleid, der Vater hat eine türkisfarbene Hose an und das Mädchen
ein kariertes Kleid in Grüntönen. Sie versucht, nicht über die Linien zu malen,
denn das freut den Schulpsychologen, das sieht sie. Sie ist zum dritten Mal bei
ihm. Die Schule hat das so angeordnet, wegen Robin.
    Der Schulpsychologe ist
alt. Fast hundert, da ist sie sich sicher. Er sitzt in seinem weißen Kittel da
und macht einen freundlichen, aber ziemlich geistesabwesenden Eindruck. Sie
fragt sich, was er wohl von ihr denkt, doch sie traut sich nicht, ihn zu fragen.
Jedes Mal, wenn sie zu ihm kommt, fragt er sie, wie es ihr geht, und sie
antwortet immer, dass es ihr gut geht, und erzählt ihm nichts von dem
bodenlosen Loch in ihrem Bauch und der stummen Wut der Mutter. Der
Schulpsychologe fragt auch nach anderen Dingen, nach der Schule und den
Kameraden, und sie lächelt tapfer und erzählt, dass alles gut läuft. Er hat
beschlossen, dass sie zeichnen soll, weil die Kunsttherapie ein neues Feld in
der Kinderpsychologie und besonders für Fälle wie ihren geeignet ist. Zeichnungen
lügen nicht, sagt er und sieht sie mit einem unergründlichen Blick hinter den
dicken Brillengläsern an. Sie zeichnet wie verrückt. Selbst wenn er sie bittet,
etwas Trauriges zu zeichnen, sich selbst, ihren Körper, ihre Familie, Robin,
malt sie frohe und farbige Bilder. Er entlässt sie nach der fünften
Therapiestunde, weil er, wie er sagt, das Gefühl hat, dass die Trauer
verarbeitet ist. Er tätschelt ihr den Kopf, während er das sagt, dann fügt er
hinzu: »Rebekka, du hast einen gelungenen Trauerprozess durchlebt oder du bist
unverbesserlich abgestumpft, und das glaube ich nicht.«
    Dann lacht er leise, und
sie verlässt das Zimmer und fühlt sich noch einsamer als vorher.
     
    »Die wichtigste Aufgabe
eines guten Therapeuten muss doch sein, Vertrauen aufzubauen, sodass der
Patient sich öffnet und Lust hat zu reden«, sagte sie und erhob sich. Jens
Anker stand ebenfalls auf. Er reichte ihr gerade bis zum Kinn.
    »Natürlich, und meistens gelingt das
auch. Doch manchmal trifft man auf Patienten wie Anna Gudbergsen, Menschen, die
ungeheuer schweren Ballast mit sich herumschleppen und sich gleichzeitig der
psychologischen Spielregeln sehr bewusst sind. Sie wollte nur das erzählen, was
sie selbst für relevant hielt, und gleichgültig, was ich gesagt habe, hat sie
damit weitergemacht. Sie war sehr starrköpfig.« Er seufzte erneut und nestelte
an einer Holzfigur herum, einer Art afrikanischer Maske, die auf seinem
Schreibtisch stand.
    »Warum haben Sie die Zusammenarbeit nicht abgebrochen, wenn Sie der
Ansicht waren, dass die Therapie keine Wirkung zeigte?«
    Er zögerte mit der Antwort, seine Schultern hingen ein wenig
herunter.
    »Ich lebe schließlich von meinen Patienten. Sie sind meine
Brötchengeber, deshalb gehört schon viel dazu, dass ich eine Therapie von
meiner Seite aus abbreche«, antwortete er ehrlich und wirkte einen kurzen
Moment schuldbewusst.
    Rebekka nickte. Sie gingen durch die Diele zur Tür. Die Katze im Hof
hatte sich erhoben, streckte sich und miaute unzufrieden. Die Sonne war verschwunden,
der Hof lag im Schatten.
    »Wo waren Sie Samstagnacht zwischen ein Uhr und vier Uhr morgens?«,
fragte sie plötzlich. Jens Anker zitterte leicht.
    »Ich war hier.« Er zeigte auf die obere Etage des Hauses. »In meinem
Bett. Ich habe

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