Vergeltung
nicht . Ich habe lange nicht
sauber gemacht. Es ist so schrecklich unordentlich. Lassen Sie uns hier draußen
reden, ich hole mir nur schnell eine Jacke.«
Sie schloss die Tür und verschwand. Rebekka und Michael sahen sich
verblüfft an.
»Warum zum Teufel lässt sie uns nicht rein?«, flüsterte Michael, und
Rebekka legte das Ohr an die Tür, doch von drinnen kam kein Laut. Einen Moment
später tauchte Sanna Gudbergsen in einer großen, molligen beigefarbenen Jacke
auf, in der sie fast versank. Sie gingen in den Garten, und Sanna Gudbergsen
griff in die Jackentasche und holte eine Packung Prince heraus. Sie schüttelte
eine Zigarette heraus, nahm ein Feuerzeug aus der anderen Tasche und zündete
sie an.
Sie inhalierte tief, dann lächelte sie sie vorsichtig an und fragte:
»Und was kann nicht warten?«
Rebekka räusperte sich. Sie kam sich fehl am Platz vor, in der Kälte
in einem Garten zu stehen und eine so ernste Nachricht zu überbringen. Sie
überlegte genau, wie sie Gert Gudbergsens Geständnis formulieren sollte, damit
seine Frau es auch begriff. Sie musste behutsam vorgehen.
»Die Sache ist die, Ihr Mann hat gestern gestanden, Anna sexuell
missbraucht zu haben.«
Sanna Gudbergsen zog an der Zigarette und starrte mit leeren Augen
vor sich hin.
Rebekka räusperte sich und wiederholte: »Sanna, Ihr Mann, Gert, hat
erzählt, dass er über eine längere Periode Ihre Tochter Anna sexuell
missbraucht hat.«
»Das kann nicht sein.«
Sanna Gudbergsen lächelte Rebekka verständnislos an und machte die
Zigarette aus.
»Doch, leider, und es bedeutet, dass unsere Ermittlung eine
unerwartete Wendung genommen hat.«
»Unsinn, das stimmt nicht.«
Sanna Gudbergsen lachte leise und holte eine neue Zigarette aus der
Packung. Ihre Hände zitterten, als sie sie anzündete.
»Ihr Mann hat den Missbrauch zugegeben – das ist leider eine
Tatsache«, fuhr Rebekka fort und trat nahe zu der Frau hin. Die Situation war
unangenehm, aber unumgänglich.
»Gert ist nicht bei Trost, wenn er so einen Unsinn erzählt. Das muss
an dem Blutgerinnsel liegen«, sagte Sanna Gudbergsen. »Gert hat Anna sehr gern
gehabt.« Sie zog noch einmal an der Zigarette, und der Rauch waberte zwischen
ihnen. »Mehr war da nicht. Gleichgültig, was Gert sagt. Unsere kleine
wunderbare Anna. Wie können Sie nur so einen Unsinn glauben.« Ihre Stimme
bebte, sie drehte sich von ihnen weg, und ihre zarten Schultern zuckten heftig.
Rebekka legte ihr den Arm um die Schulter.
»Es tut mir leid.«
Sanna Gudbergsen reagierte nicht.
»Das bedeutet, dass Ihr Mann ein Motiv hatte …«
»Sie müssen jetzt gehen.« Sie sah sie mit glasigen Augen an. »Sie
müssen jetzt gehen«, wiederholte sie. Die Sonne verschwand hinter den hohen
Tannen, und der Garten lag im Schatten. Auf der Treppe drehte sie sich um, und
ihre schwarzen Augen blickten sie unergründlich an.
»Da draußen läuft ein Mörder herum. Ein gefährlicher Mörder. Ich
muss sie beschützen.«
Dann ging sie ins Haus und zog mit einem Knall die Tür hinter sich
zu.
—
Erik hatte die letzten
vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und getrunken. Er lag auf seinem Bett
und starrte in die Luft. Seine Mutter hatte mehrere Male hereingeschaut und ihn
besorgt gefragt, was mit ihm los sei, aber er hatte nicht die Kraft gehabt, ihr
zu antworten. Er fühlte sich kraftlos. Sein Körper war bleiern, der Hals
trocken durch den Flüssigkeitsmangel, und in seinem Magen rumorte es. Trotz
seines Unbehagens schaffte er es nicht, die Hand nach den Tabletts mit Saft,
Tee und Essen auszustrecken, die seine Mutter in regelmäßigen Abständen auf den
kleinen Nachttisch neben seinem Bett stellte. Sein Körper gehorchte ihm nicht
mehr. Er dachte an nichts, versuchte es auch gar nicht, ließ das Gehirn im
Leerlauf laufen, während hin und wieder Episoden aus der Vergangenheit wie Fragmente
aus Farben und Lauten an ihm vorbeiflimmerten. Er akzeptierte diesen Zustand.
Sein Vater kam in den Keller hinunter, stand ein paar Minuten an seinem Bett
und starrte ihn mit seinem durchdringenden Blick an. Es hatte eine Zeit
gegeben, in der dieser Blick und sein Schweigen ausgereicht hatten, dass er aus
dem Bett gesprungen war, doch jetzt hatte das nichts mehr zu bedeuten – nichts
hatte mehr etwas zu bedeuten.
—
Der Kopfschmerz legte sich
wie ein Eisenring um ihren Schädel. Rebekka rieb sich die Augen und sandte ein
Stoßgebet zum Himmel: Bitte jetzt keine Migräne,
danke. In der Pubertät hatte sie heftig
unter
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