Vergeltung
beruhigend in seinen Ohren. Er
drehte sich vorsichtig auf die Seite, als die Zimmertür leise geöffnet wurde.
»Hallo, Alex, ich heiße Karin. Ich werde Sie gleich waschen.« Die
Stimme war neu, sanft und warm, nicht so hart und nüchtern wie die der anderen
Krankenschwestern. Er stellte sich vor, wie sie wohl aussehen mochte, bestimmt
war sie jung, etwas mollig und hatte weibliche Formen und blondes Haar.
»Ich wasche Sie ganz vorsichtig. Ich hoffe, dass das Wasser warm
genug ist, sonst müssen Sie mir ein Zeichen geben.«
Die Decke wurde zur Seite geschlagen, und er spürte die Kälte des
Zimmers. Er kam sich entblößt vor, zur Schau gestellt. Er wollte Widerstand
leisten, spannte die Muskeln an und die alte Wut flammte wieder in ihm auf,
doch dann spürte er die warmen, sanften Hände und den lauwarmen Waschlappen,
der vorsichtig seinen Körper wusch. Er gab seinen Widerstand auf, gab sich den
Berührungen hin, die sich wie kleine elektrische Stromstöße auf der Haut
anfühlten, während sich etwas Vergessenes in ihm löste und Tränen über seine
Wangen strömten. Er war verlegen, doch Karin tat, als ob nichts wäre. Sie
plauderte einfach weiter über das Wetter, den Respirator, der gerade entfernt
worden war, und das Krankenhausessen, zu dem heute, weil Samstag war, auch ein
Dessert gehörte. Er lag einfach da und hörte ihrer ruhigen, leicht lispelnden
Stimme zu, während sein Gesicht von Tränen nass war. Er spürte die Sonne, und
die Strahlen fielen auf sein Gesicht und trockneten die Tränen, genau wie eine
gute Mutter das getan hätte.
—
Sie fanden das Ferienhaus
sofort. Ein großes, rotes Holzhaus im schwedischen Stil mit weiß gestrichenen
Sprossenfenstern und einer kleinen, hübschen Veranda. Es lag versteckt auf
einem schönen Naturgrundstück, das schräg zu der Plantage in Søndervig abfiel.
Søndervig gehörte zu den beliebtesten Ferienorten der Gegend, und Rebekka
spürte ein Ziehen im Bauch bei dem Gedanken, dass das frühere Ferienhaus ihrer
Tante nur wenige Kilometer von hier entfernt lag. Sie parkten das Auto und
sahen sofort, dass Sanna Gudbergsens Volvo im Carport stand. Rebekka verspürte
tiefe Erleichterung, bis ihr auffiel, dass alle Gardinen im Haus zugezogen
waren. Die Erleichterung wich augenblicklich einem seltsamen Knoten aus Angst,
der Angst, dass Sanna Gudbergsen nicht mehr am Leben sein könnte. Es war nicht
ungewöhnlich, dass ein Elternteil sich nach dem Verlust eines Kindes aus Trauer
das Leben nahm.
»Sieh mal, da ist jemand.« Michael
zeigte auf ein Fenster mit einer klein karierten Gardine, vermutlich die Küche.
»Die Gardine hat sich bewegt, aber ich konnte nicht sehen, ob sie es war.«
Beide starrten konzentriert die Gardine an, sahen aber nichts. Schweigend
stiegen sie aus dem Auto und gingen zur Haustür. Rebekka spürte eine Stille,
wie wenn jemand den Atem anhielt. Michael klopfte fest an die weiße Holztür.
Niemand öffnete. Sie warteten einige Minuten, dann schlug Rebekka mit der Hand
gegen die Tür. Sie spürte das raue Holz an ihrem Handrücken.
»Sanna Gudbergsen, hier ist Rebekka Holm. Seien Sie bitte so nett
und machen Sie auf«, rief sie.
Sie hörten jemanden im Haus rumoren und eine Stimme: »Einen
Augenblick.«
»Ich möchte wissen, was sie da drinnen macht.« Michael sah Rebekka
fragend an, die nicht mehr antworten konnte, weil die Haustür aufging und Sanna
Gudbergsen vor ihnen stand.
»Was um alles in der Welt wollen Sie hier?«
Sie sah sie mit einem seltsamen, fast fröhlichen Blick an, und
Rebekka fiel auf, wie verändert sie war. Die apathische Sanna Gudbergsen war
verschwunden – vor ihnen stand eine tatkräftige Frau.
»Entschuldigung, wenn wir stören. Ich habe wiederholt versucht, Sie
anzurufen, und Ihr Mann meinte, dass Sie vielleicht hier sein könnten. Wir
müssen mit Ihnen über ein paar neue Informationen reden, die bei unserer
Ermittlung aufgetaucht …«
»Machen wir einen Termin aus, dann komme ich ins Präsidium«,
unterbrach Sanna Gudbergsen sie. »Im Moment bin ich beschäftigt. Ich rufe Sie
an.« Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter und wollte gerade die Tür
schließen, als Rebekka einen Fuß dazwischensetzte und sie bittend ansah.
»Sanna, es ist wichtig. Wir ermitteln im Mord an Ihrer Tochter …«
»Es kann nicht warten«, fügte Michael hinzu. »Dürfen wir
hereinkommen? Es dauert nur einen Augenblick.«
Sanna Gudbergsen blickte erneut über die Schulter und schüttelte den
Kopf.
»Das geht
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