Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Mordopfer behandeln und deshalb an jedem eine ordentliche Autopsie durchführen müssen, verlangsamt sich der Vorgang erheblich.
Erst nach und nach werden die Leichen freigegeben und direkt den Bestattern überstellt, wobei auf dringende Empfehlung von Eagle Airlines darauf verzichtet wird, sie den Angehörigen zu zeigen.
Dasselbe Chaos der Zuständigkeiten wie an Land entsteht auch auf dem Wasser, nur dass hier außerdem die Küstenwache und die Navy CIS ein Wörtchen mitreden wollen.
»Was war die Ursache?!«, hört Dave einen Mann hinten im Raum rufen. »Was ist passiert?!«
»Wir wissen es noch nicht«, gesteht der Sprecher unumwunden. »Es ist noch viel zu früh, um Aussagen darüber zu treffen. Ich kann nur sagen, dass das NTSB die Ermittlungen aufgenommen hat und …«
Dave blendet das Gelaber aus: »Keine voreiligen Schlüsse«, »jede Möglichkeit in Betracht ziehen« und so weiter. Auf der anderen Seite sieht er jetzt Phil Abrams stehen.
Ein ehemaliger FBI-Agent, der Dave auf den Posten als Sicherheitschef bei Eagle Airlines gefolgt war. Dave hatte seinen ehemaligen Stellvertreter wärmstens empfohlen.
Phil hatte früher nur wenige Straßen entfernt in Rye gewohnt, aber auch nach seiner Scheidung und dem Umzug nach Greenwich war er noch ständiger Gast im Wohnzimmer der Collins’ – wenn sie Partys feierten, er mit Dave bei einem Bier und einem Teller Chili Football guckte oder mit Jake Videospiele spielte.
Als er Dave entdeckt, wirkt er völlig fertig. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Was ist passiert, Phil?«
»Ich kann dir nicht sagen, was ich nicht weiß«, erwidert Phil. »Willst du die Wahrheit hören? Wir beziehen unsere Informationen im Moment hauptsächlich aus den Medien.«
»Und die Black Box?«
»Wurde noch nicht gefunden.«
Das, was man allgemein unter einer Black Box versteht, besteht eigentlich aus zwei Kästen, die außerdem nicht schwarz, sondern grellorange sind. Einer enthält den Stimmenrekorder, der alle im Cockpit geführten Gespräche aufzeichnet. Der andere den Flugdatenschreiber, der alle Instrumentenanzeigen speichert. Würde einer davon oder würden sogar beide gefunden, könnten sie wahrscheinlich erzählen, was mit Eagle 211 geschehen ist.
»Radar?«, fragt Dave.
»Die Maschine ist einfach vom Bildschirm verschwunden.«
»Was ist mit der Flugverkehrskontrolle?«
»Kein Funkspruch.«
»Kein Notruf?«, fragt Dave.
Phil schüttelt den Kopf.
Beide wissen, dass das extrem ungewöhnlich ist. Dave hat noch nie von einem so plötzlichen Absturz gehört, bei dem der Pilot nicht mal mehr Zeit hatte, ein Mayday-Signal an den Tower zu senden. Was auch immer passiert war, es ging sehr schnell – war überraschend, enorm und katastrophal.
»Zeugen?«, fragt Dave.
»Dave …«, Phil wirkt gequält. »Die wollen nicht, dass ich mit dir rede. Es gab schon eine Dienstanweisung.«
Das geht ja schnell, denkt Dave. Nach nur wenigen Minuten gehört man schon zu den »anderen«, wird zum Außenseiter, zum Opfer.
»Mister David Collins.«
Dave hört, dass sein Name aufgerufen wird.
»Geh lieber«, sagt Phil.
Dave verlässt den Saal und läuft durch den Gang wie unter Wasser. Vorbei an den Bestattern und hinein in den kleinen Raum, in dem eine Vertreterin der Fluggesellschaft an einemTisch sitzt, eine »Trauerbegleiterin« an ihrer Seite. Wie für alles andere gibt es auch für den Tod ein Prozedere.
»Mr Collins?«, fragt die Mitarbeiterin von Eagle Airlines. Sie ist ungefähr in Dianas Alter. Ihre Augen sind freundlich, aber sehr müde.
»Ich bin David Collins.«
»Mr Collins«, beginnt die Frau, »es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich Ihre Frau Diana und ihr Sohn Jake an Bord von Flug 211 befanden.«
Dave schweigt.
»Wie Sie bereits wissen«, fährt sie fort, »können wir inzwischen bestätigen, dass es keine Überlebenden gibt.«
Dave muss einfach nur dasitzen und dem »Prozedere« lauschen.
»Leider ist es uns noch nicht gelungen, die Überreste der beiden zu identifizieren, und ich befürchte, was eine Bestattung angeht …«
Dave ist viel zu erschüttert, um an eine Beerdigung zu denken. Er weiß auch gar nicht, ob sie Grabplätze gekauft haben, und einer Kirche gehören sie nicht an …
»Mr Collins?«
Die Trauerbegleiterin schaltet sich ein, sie ist höchstens Mitte zwanzig, und Dave fragt sich, was sie über Trauer weiß.
»Ja?«
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann«, sagt sie, »wenn Sie vielleicht an einen
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