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Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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Airlines übernimmt die volle Verantwortung für die Tragödie und wird die betroffenen Angehörigen unverzüglich entschädigen.«
    Und was ist mit mir, fragt sich Wendelin.
    Was ist mit meiner Verantwortung?


    Dave hat keine Leichen zu begraben, keine Asche zu verstreuen.
    Aber er steht mit tausenden von Angehörigen im Red Hook Park, der dem Absturzort nächsten unbebauten Fläche. Die Winterluft ist eisig. Ein unerbittlich rauer Wind weht vom Long Island Sound herüber.
    Angehörige sind gekommen, Menschen, die es gut meinen, und Amtsträger – der New Yorker Bürgermeister, der Gouverneur … sogar der Präsident der Vereinigten Staaten steht ohne Kopfbedeckung da, hält die Hand seiner Frau und kondoliert den Hinterbliebenen. Dave sieht Jameson und Bell. Phil Abrams steht ein paar Meter entfernt und tupft sich mit einem Taschentuch über die Augen.
    Die Andacht beginnt.
    Katholische Priester, protestantische Pastoren, buddhistische Mönche und muslimische Imams beten und segnen die Verstorbenen. Eine Schweigeminute, dann erklingen Dudelsäcke von einer kleinen Anhöhe zu Ehren der Polizisten und Feuerwehrmänner, die ihr Leben ließen bei dem Versuch, Menschen aus dem Tunnel zu retten.
    Dave hat nichts anderes als diese Gedenkfeier – von Diana und Jake gibt es keine identifizierbaren Überreste. Er steht neben Dianas weinender Mutter und ihrem stoischen Vater und lauscht, wie der Wind die letzten Akkorde von Amazing Grace davonträgt.
    Dann werden achthundertsiebzehn weiße Tauben – für jedes Katastrophenopfer eine – aus ihren Käfigen entlassen, sie flattern in den blauen Himmel den Wolken entgegen.
    Jake hat sich immer gewünscht, fliegen zu können, denkt Dave.


    Dave sitzt einem Mann gegenüber, der ihm gleich sagen wird, was seine Frau und sein Sohn wert waren.
    Frank Sloane legt eine blaue Mappe auf den Wohnzimmertisch. Er sieht aus wie ein typischer Versicherungsmann – sein schwarzer Anzug mit den feinen Nadelstreifen passt zu den silbrigen Strähnen in seinem ansonsten schwarzen Haar.
    Dave nimmt die Mappe nicht, schlägt sie nicht auf.
    Sloane hat das hier schon hundert Mal gemacht, aber jeder Fall ist einzigartig. Die Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf Tragödien und Verlust. Einige befinden sich noch in einem Schockzustand – ihre Gefühle sind wie betäubt, und sie nehmen die finanziellen Konsequenzen teilnahmslos zur Kenntnis. Andere sind wütend und haben das Bedürfnis, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, sind erst danach in der Lage, über Geschäftliches zu sprechen. Wieder andere versinken so tief in ihrer Trauer, dass sie kaum zuhören, geschweige denn verstehen, was er ihnen mitteilen möchte.
    Natürlich gibt es auch die Gierigen, die in keinem engen Verhältnis zu dem oder der Verstorbenen standen. Sie interessieren sich ausschließlich für das Geld, und mit ihnen kommt man eigentlich am leichtesten klar, weil es nur um Zahlen geht.
    Aber Collins passt in keine dieser Kategorien. Äußerlich gibt er sich so ruhig, dass er fast gleichgültig wirkt, unter der Oberfläche aber brodelt es. Irgendwo brennt dort eine Zündschnur, die Bombe ist noch nicht explodiert, und Sloane würde die Angelegenheit gerne hinter sich bringen, bevor es so weit ist.
    »Natürlich kann kein Geld der Welt Ihren Verlust wieder wettmachen«, fährt Sloane fort, »oder Diana und …«
    Er zögert kurz.
    »Jake«, sagt Dave.
    »… Jake zurückbringen«, beeilt sich Sloane anzufügen. »Das verstehen wir. Um Sie dennoch zumindest teilweise zu entschädigen …«
    »… und Klagen vor Gericht abzuwenden …«, sagt Dave.
    Denn genau darum geht es hier bei diesem freundlichen Hausbesuch, denkt er. Die Fluggesellschaft weiß, dass sie so oder so hunderte Millionen Dollar zahlen muss, und will sich teure Prozesskosten sparen. Anwaltshonorare und Gerichtskosten allein könnten sich insgesamt auf über zehn Millionen Dollar belaufen, insofern hat das Unternehmen ein starkes Interesse daran, sich einvernehmlich mit den Angehörigen der Opfer zu einigen, bevor diese vor Gericht ziehen.
    Sloane sagt: »So unsensibel das klingen mag, es gibt Richtlinien für solche Fälle, und die Höhe der Aufwendung bemisst sich an zwei Hauptkategorien – dem wirtschaftlichen Verlust und dem nicht wirtschaftlichen Verlust. Unter dem wirtschaftlichen Verlust verstehen wir die finanziellen Leistungen, die der oder die Verstorbene den Hinterbliebenen erbracht hätte, wäre es nicht zum Tod gekommen. Das ist eine recht

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