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Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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und seine Augen sind blutunterlaufen.
    Im Haus sieht es noch schlimmer aus. Leere Bierflaschen stehen auf dem Wohnzimmertisch, darunter ein leerer Pizzakarton. Seit Wochen wurde hier nicht mehr gesaugt, und auf allem liegt eine dicke Staubschicht. Ungeöffnete Post – verschmähte Botschaften aus einer Welt, die Dave nicht mehr interessiert – stapelt sich auf dem Esstisch.
    »Wohl nicht auf Besuch vorbereitet, hm?«, sagt der Mann. Er geht einfach an Dave vorbei in die Küche und sieht sich um. »Gibt’s Kaffee, Chief?«
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber machen Sie, dass Sie rauskommen.«
    »Warum? Damit Sie ungestört an Ihrer Knarre lutschen können?«, fragt der Mann. »Mein Name ist Stan Mullen. United States Navy, inzwischen im Ruhestand. Ich bin mehr als hundert Einsätze über Nordvietnam geflogen.«
    »Und?«
    »Und«, sagt Mullen, findet eine Tüte Kaffee und löffelt etwas davon in die Kanne, »ich erkenne eine Rakete, wenn ich eine sehe.«
    Er sei joggen gewesen an »dem Morgen«, erzählt er Dave jetzt Bier trinkend am Küchentresen, draußen im Wildlife Refuge von Jamaica Bay, als er etwas Seltsames gesehen habe.
    Ein greller weißer Lichtstrahl sei hinter den Bäumen hervorgeschossen. Ein Objekt – glänzend wie die neuen Zehn-Cent-Stücke, die er seinem kleinen Enkel immer von der Bank mitbringt –, eine rote Flamme mit einem wirbelnden Schweif aus Rauch sei zum Himmel aufgestiegen.
    »Ich konnte kaum glauben, was ich da sah«, sagt Mullen. »Ein paar Sekunden später hab ich die Explosion gehört.«
    Dave ist zu jung, um in Vietnam gekämpft zu haben, aber er weiß, dass das sowjetische Luftverteidigungssystem dort zu den damals besten der Welt zählte. Mullen muss viele solcher Raketen gesehen haben.
    Aber Dave ist kein Verschwörungstheoretiker, kein Anhänger von »Grassy Knoll«-Theorien, kein Oliver Stone mit zu viel Phantasie.
    »Ich weiß, was Sie denken«, sagt Mullen. »Gleich ziehe ich ein Bigfoot-Video aus der Tasche, das ich zusammen mit Elvis gedreht habe, als wir von Außerirdischen entführt wurden.«
    Dave zuckt mit den Schultern. Ziemlich genau das hat er gedacht. Er nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den Mullen gekocht hat, und fragt: »Wieso kommen Sie damit zu mir? Wieso wenden Sie sich nicht an die zuständigen Behörden?«
    »Da war ich schon«, sagt Mullen und lässt sein zweites Bier aufknacken. »Ich hab noch am Morgen des sogenannten Unfalls beim FBI angerufen.«
    »Und?«
    »Die haben zwei Kerle vorbeigeschickt, die mir verklickern wollten, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe«, sagt Mullen. »Ein durchgeknallter Vietnam-Veteran. Sie meinten, ich hätte bloß irgendeinen Dunst aus dem Wasser aufsteigen sehen.«
    »Hören Sie«, sagt Dave. »Ich weiß, dass Sie glauben gesehen zu haben, was Sie glauben gesehen zu haben. Aber … heutzutage? Jeder hat ein Handy mit Kamera. Wenn Sie recht hätten, müsste es doch Fotos geben, Videos …«
    Mullen lächelt. »Trinken Sie Ihren Kaffee, wir machen eine Spazierfahrt. Aber wissen Sie was? Ziehen Sie erst mal ein sauberes Hemd an.«
    Jack Grafton führt sie auf die Veranda seines Hauses in Westhampton und zeigt auf die Stelle, wo er den »Lichtstrahl« hervorkommen und auf das Flugzeug zuschießen sah. Grafton ist pensionierter Finanzplaner, Mitte siebzig und hat dichtes schneeweißes Haar.
    »Ich saß hier draußen, hab Kaffee getrunken«, sagt Jack, »und dann sah ich dieses Ding hochschießen. Ich hab meinHandy geschnappt und das hier aufgenommen – ich hab’s Stan schon gezeigt. Ein paar Sekunden später gab es einen Riesenrumms. Die Veranda hat gebebt. Wie von einer Druckwelle getroffen.«
    Dave sieht auf das kleine Display, ein glänzendes, rot glühendes Objekt fliegt in spitzem Bogen von Südosten nach Nordwesten. Das Video ist verwackelt, und das Ding verschwindet noch vor der Explosion aus dem Bild.
    »Ich hab sofort die Polizei angerufen«, fährt Grafton fort. »Die kamen und haben das Video kopiert. Zwei Wochen später sind zwei FBI-Agenten hier aufgetaucht und haben behauptet, auf dem Video sei ein Leuchtsignal zu sehen. Ein Fischer habe sich in Jamaica Bay verfahren und ein Leuchtsignal abgefeuert.«
    »Sieht das in Ihren Augen nach einem Leuchtsignal aus?«, fragt Mullen Dave, als sie wieder losfahren.
    »Möglich wär’s.«
    »Mh-hm.«
    Sie finden Bill MacEneany in einem Irish Pub in Far Rockaway.
    Seine kräftigen Unterarme liegen schützend vor seinem Bier und dem Schnaps auf dem Tresen,

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