Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
tastet nach dem Puls an der Halsschlagader.
»Simon?«
»Was?«
»Er hat ausgecheckt.«
»Verfluchte Scheiße!«
Willem ist geduldig.
Er hat seine Flinte gegen Ulrichs HK416 getauscht und liegt jetzt ausgestreckt im Sand, wartet darauf, dass sich Mündungsfeuer zeigt. Wenn er welches sieht, feuert er und verändert rollend seine Position, dann wartet er wieder, schießt und rollt.
Nur noch sieben Mündungsfeuer.
Er arbeitet daran, dass es sechs werden, als sich Michel meldet. »Crew bereit machen zum Rückzug.«
»Was ist mit Rolf?«
»Der bleibt«, schaltet sich Donovan ein.
»Inakzeptabel.«
»Nichts mehr zu machen«, beharrt Donovan.
»Ich will aber was machen«, sagt Willem.
Die anderen melden sich ebenfalls über Funk. Niemand will Rolf zurücklassen.
»Dann macht«, sagt Donovan. »Der Heli ist in der Luft.«
Physiker verfassen wissenschaftliche Abhandlungen über das Verhältnis zwischen Zeit und Raum, dabei kennen sich Soldaten bestens damit aus.
Sie wissen, dass man Zeit braucht, um Raum zu gewinnen, und Raum, um Zeit zu gewinnen.
Jetzt brauchen sie Zeit und Raum, um Rolfs Leichnam zum Boot zu schaffen.
Ohne Deckung.
Unter Beschuss.
Geschützt einzig von der Dunkelheit.
Die Mudschahedin halten sich jetzt zurück, wollen ihre Positionen nicht verraten, indem sie feuern. Aber sobald wir uns in Bewegung setzen, denkt Dave, schießen sie, und sie wissen, dass wir uns in Bewegung setzen müssen. Sie wissen nicht, dass wir einen Mann tragen, aber wahrscheinlich bekommen sie auch das relativ schnell mit.
Die Zeit schreitet gnadenlos voran. Der Helikopter fliegt ihnen entgegen und zweifelsohne wird sich inzwischen im Dorf jemand ans Telefon gehängt haben. Wahrscheinlich ist die kenianische Armee schon unterwegs, die Air Force steht in den Startlöchern.
Wir müssen raus.
»Wie lange wird es dauern?«, fragt Dave.
»30 bis 45 Sekunden«, erwidert Cody. Traurigerweise ist er Experte im Evakuieren von Leichen.
»Wir müssen die Arschlöcher zurückdrängen«, sagt Ulrich.
Wir dürfen die Crew nicht auseinanderreißen, denkt Dave. Willem, Ulrich, Amir und Simon müssen Rolf zum Boot tragen. Und es wird nicht leicht werden, mit 130 Kilo totem Gewicht aufs offene Meer rauszupaddeln.
Wenn sie’s überhaupt bis zum Boot schaffen – die Mudschahedin werden sie aus ihrer geschützten Stellung heraus niedermähen, sobald sie aufstehen.
Also müssen wir sie zuerst aus ihren Stellungen holen.
Dafür kommen Michel, Cody, Alessandro, Lev und ich selbst in Frage.
Meine Wahl fällt auf mich.
»Bereitmachen für den Abtransport«, sagt Dave über Funk, reißt plötzlich das Kommando an sich. »Meine Crew: auf das Mündungsfeuer zielen.«
»Was hast du vor?«, fragt Michel.
»Haltet euch bereit«, erwidert Dave.
Er greift rüber, nimmt Simons HK53 und geht los.
Die Lektion hat er vor langer Zeit gelernt.
Lässt sich die Stellung nicht halten, muss man angreifen.
Niemand weiß genau, warum sich Männer für andere ins Feuer werfen.
Ihr Leben für etwas Höheres riskieren.
Manche behaupten, es sei dem esprit de corps geschuldet , der Solidarität innerhalb einer Einheit, der Bruderschaft unter den Kriegern. Andere behaupten, es sei eingeimpft, antrainiert, Teil der Kultur.
Mag sein.
Vielleicht ist es aber auch etwas im Herzen, im Blut, ein angeborener Edelmut, der den meisten Menschen abgeht.
Was auch immer es sein mag, Dave Collins steht auf und rennt über den Sand.
Er feuert aus der Hüfte, lässt höllische Salven niedergehen.
Und weiß dabei ganz genau, wie ineffektiv das ist – Rambo-Mist – aber er will sich selbst zum unübersehbaren Ziel machen.
»Los«, befiehlt Willem.
Die restliche Crew packt Rolf und rennt mit ihm über den Strand zum Boot, während die Mudschahedin auf Collins feuern.
Aber nur wenige Sekunden lang.
Denn zwei der besten, hochqualifiziertesten Scharfschützen der Welt nehmen jetzt ihre Mündungsfeuer ins Visier.
Licht aus.
Dave lässt sich in den Sand fallen.
Ein bisschen überrascht darüber, dass er noch lebt.
Was er hauptsächlich der Weste zu verdanken hat – er spürt die Quetschungen an den Rippen, wo die Kugeln der Mudschahedin auf die Keramikplatten getroffen sind.
Auch der Helm hat zwei Dellen.
Jetzt ist es still, abgesehen vom Stöhnen eines verwundeten Mudschahed hinter den Dünen. Dave dreht den Kopf und sieht Willems Boot in die leichte Brandung stechen.
Dann schiebt sich Cody neben ihn. »Dude, wir müssen weiter.«
Sie schlängeln
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